Rz. 28
Die anspruchsbegründenden Tatsachen müssen grundsätzlich voll nachgewiesen sein. Dies bedeutet, dass der Unfallversicherungsträger sich grundsätzlich die volle Überzeugung von den beweiserheblichen Tatsachen verschaffen muss. Anspruchsbegründende Tatsachen sind die Tatsachengrundlagen für das Vorliegen eines Arbeitsunfalls (das Unfallereignis und die versicherte Tätigkeit) oder einer Berufskrankheit (die Krankheit, die versicherte Tätigkeit und die durch sie bedingten schädigenden Einwirkungen einschließlich deren Art und Ausmaß). Auch die Tatsachengrundlagen zur Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs müssen voll bewiesen sein (die unfallbringende Betätigung, der Gesundheitserstschaden und die später eintretende Unfallfolgen).
Rz. 28a
Auch diejenigen Tatsachen, die zur Unterbrechung des inneren Zusammenhangs mit der versicherten Tätigkeit durch eine eigenwirtschaftliche Verrichtung oder zur vollständigen Lösung des Zusammenhangs mit der versicherten Tätigkeit führen, müssen im Vollbeweis festgestellt werden.
Stürzt ein Versicherter von einem Arbeitsplatz auf einem Kran, wo er zuletzt betriebliche Arbeit verrichtet hat, aus ungeklärten Umständen tödlich ab, so entfällt der Versicherungsschutz nur, wenn bewiesen wird, dass er die versicherte Tätigkeit im Unfallzeitpunkt für eine eigenwirtschaftliche Verrichtung unterbrochen hatte (BSG, Urteile v. 26.10.2004, B 2 U 24/03 R, und v. 4.9.2007, B 2 U 28/06 R). Die Ungewissheit darüber, aus welchen Beweggründen der Versicherte noch weitere 10 bis 20 Minuten auf der Plattform verblieben ist und was er dort getan hat, geht zulasten des Unfallversicherungsträgers (BSG, a. a. O.).
Das BSG (Urteil v. 31.1.2012, B 2 U 2/11 R) stuft die im Praxisbeispiel dargestellte Beweisführung allerdings als "Beweiserleichterungen" ein (vgl. dazu Rz. 30).
Rz. 28b
Volle Gewissheit über das Vorliegen einer Erkrankung und deren Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit lässt sich jedoch nur selten gewinnen; denn die Reaktionsweise des menschlichen Körpers lässt sich nicht mit mathematischer Genauigkeit bestimmten (Mehrtens/Schönberger/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, S. 118). Daher ist i. d. R. eine Tatsache bereits dann i. S. d. Vollbeweises als erwiesen anzusehen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falls nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung hierauf zu gründen. An dieser vom BGH (Entscheidung v. 17.2.1970, III ZR 139/67) geprägten Formel orientieren sich auch die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit (vgl. BSG, Urteil v. 6.4.1989, 2 RU 69/87; Urteil v. 2.2.1978, 8 RU 66/77). Danach darf und muss der Richter sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen.