Kommentar
Bei dem Verfahren ging es um die Frage, ob die Bestimmungen der Artikel 11 Teil A Abs. 1 Buchst. c und Artikel 27 der 6. EG-Richtlinie die besondere Regelung über die sogenannte Mindestbemessungsgrundlage in § 10 Abs. 5 Nr. 1 UStG 1980 zulassen. Der Kläger hatte ein Mehrfamilienhaus und mehrere Eigentumswohnungen an eine GmbH vermietet, deren Gesellschafter sein Sohn und seine Ehefrau, also nahestehende Personen im Sinne des § 10 Abs. 5 UStG , waren. Der vereinbarte Mietzins entsprach der ortsüblichen Miete für die Gebäude dieser Art. Das Finanzamt ging von der höheren Kostenmiete als Bemessungsgrundlage aus.
In seinem Vorabentscheidungsersuchen äußerte der Bundesfinanzhof Zweifel, ob bei entgeltlichen Leistungen zwischen nahestehenden Personen die Mindestbemessungsgrundlage auch dann angesetzt werden könne, wenn das vereinbarte Entgelt zwar niedriger als die Mindestbemessungsgrundlage aber marktüblich ist. Der Bundesfinanzhof stellte des weiteren die Regelung über die Mindestbemessungsgrundlage als Sondermaßnahme im Sinne des Artikels 27 der 6. EG-Richtlinie insgesamt in Frage, weil die danach vorgesehene Ratsermächtigung nicht veröffentlicht worden sei.
Der EuGH hat entschieden, daß die deutsche Regelung über die Mindestbemessungsgrundlage insoweit nicht von der Ratsermächtigung gemäß Artikel 27 der 6. EG-Richtlinie gedeckt ist, als sie auch gilt, wenn das vereinbarte Entgelt zwischen nahestehenden Personen zwar marktüblich, aber niedriger als die Kosten im Sinne des § 10 Abs. 4 UStG ist.
Auf die zweite Vorlagefrage, ob § 10 Abs. 5 Nr. 1 UStG als Sondermaßnahme wirksam ist, obwohl das entsprechende Ermächtigungsverfahren nach Artikel 27 der 6. EG-Richtlinie im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften nicht veröffentlicht wurde, geht der Gerichtshof unter Hinweis auf seine Antwort zur ersten Vorlagefrage nicht ein. In dem Verfahren hatten alle Beteiligten, auch der Generalanwalt in seinem Schlußanträgen, die Auffassung vertreten, daß eine vom Rat gemäß Artikel 27 Abs. 1 der 6. EG-Richtlinie stillschweigend beschlossene Abweichungsermächtigung bzw. das Ermächtigungsverfahren im Sinne des Artikels 27 Abs. 2 – 4 der Richtlinie nicht im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften bzw. in amtlichen Veröffentlichungen des jeweiligen Mitgliedstaates veröffentlicht werden müssen. Bei dem stillschweigendem Beschluß des Rates handele es sich nämlich um eine Entscheidung im Sinne von Artikel 191 Abs. 3 EG-Vertrag , die nicht veröffentlicht zu werden braucht.
Nach dem Urteil sind für das deutsche Umsatzsteuerrecht Konsequenzen zu ziehen. Falls gesetzgeberisch keine Änderung von § 10 Abs. 5 Nr. 1 UStG vorgenommen werden sollte, müßte die Vorschrift nach dem EuGH-Urteil einschränkt dahingehend ausgelegt werden, daß sie sich auf Leistungen ohne ein angemessenes, d.h. marktübliches Entgelt beschränkt.
Obwohl in dem Verfahren nur § 10 Abs. 5 Nr. 1 UStG angesprochen war, bleibt abzuwarten, ob auch Folgerungen aus dem Urteil für § 10 Abs. 5 Nr. 2 UStG (Leistungen, die ein Unternehmer an seine Arbeitnehmer aufgrund des Dienstverhältnisses ausführt) gezogen werden. Für diese Umsätze dürfte das Urteil genauso Bedeutung haben. Bei § 10 Abs. 5 Nr. 2 UStG handelt es sich ebenfalls um eine Sondermaßnahme nach Artikel 27 der 6. EG-Richtlinie , die nach dem Urteil restriktiv anzuwenden ist und von den grundsätzlichen Regelungen der 6. EG-Richtlinie nur insoweit abweichen darf, wie dies für die mit der Sondermaßnahme verfolgten Ziele unbedingt erforderlich ist. Da nach dem Urteil Artikel 27 der 6. EG-Richtlinie durch die Anwendung der Mindestbemessungsgrundlage bei marktüblichen Entgelten zwischen nahestehenden Personen überstrapaziert wird, müßte auch § 10 Abs. 5 Nr. 2 UStG als Parallelvorschrift zu Nr. 1 betroffen sein. Dies gilt um so mehr, als nach dem Urteil selbst bei einer zulässigen Abstraktionswirkung der nationalen Bestimmung die Marktüblichkeit des Entgelt beachtlich ist.
Fraglich ist noch, ob das Urteil auch auf nichtbestandskräftige Steuerfälle anzuwenden ist, in denen das vereinbarte Entgelt höher als das marktübliche Entgelt aber niedriger als die Kosten ist. In diesen Fällen könnte ja die Forderung erhoben werden, die Besteuerungsgrundlage müsse auf das marktübliche Entgelt heruntergeschleust werden. Dies dürfte nach dem Urteil jedoch kaum möglich sein, weil der Gerichtshof ausdrücklich auf den Vorrang von Artikel 11 der 6. EG-Richtlinie (Besteuerungsgrundlage) abgehoben hat. Damit kommt es in erster Linie auf das tatsächlich vereinbarte Entgelt an. Die Marktüblichkeit kann somit nur entscheidend dafür sein, ob als Bemessungsgrundlage die Kosten oder das tatsächlich vereinbarte Entgelt anzusetzen sind.
Link zur Entscheidung
EuGH, Urteil vom 29.05.1997, C-63/96