Leitsatz
Ob der automatisierte Abruf von Kontenstammdaten verfassungsgemäß ist oder nicht, steht nicht fest. Mögliche Nachteile der Anwendung der Normen treten hinter die Beeinträchtigungen zurück, die beim Nicht-In-Kraft-Treten des Gesetzes für die Allgemeinheit zu erwarten wären. Dies gilt jedenfalls solange, wie die im Anwendungserlass verfügten Einschränkungen der Kontenabfrage beim Gesetzesvollzug beachtet werden.
Sachverhalt
Die Antragsteller, eine Volksbank, ein Notar und eine Privatperson, wollten das In-Kraft-Treten von § 93 Abs. 7, 8 und § 93b AO durch Anträge auf eine einstweilige Verfügung verhindern. Das BVerfG lehnte diese ab.
Entscheidung
Das BVerfG hebt hervor, dass der Ausgang des Hauptsacheverfahrens völlig offen ist, zur Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Normen also keine Aussagen gemacht werden können. Der Senat sieht aber in ihrer (vorläufigen) Anwendung keinen gravierenden Rechtsverstoß.
Bei Erlass einer einstweiligen Anordnung und späterer Erfolglosigkeit der Verfassungsbeschwerden würde Behörden und Gerichten vorläufig ein Instrument genommen, das zum gleichmäßigen Vollzug von Abgaben- und Sozialleistungsgesetzen beitragen soll. Bei hinreichendem Anlass können schon bisher Auskünfte von Kreditinstituten, insbesondere über konkrete Kontenstände und -bewegungen, verlangt werden. Dafür muss aber bekannt sein, bei welchen Kreditinstituten der Steuerpflichtige Konten unterhält. Diese Kenntnis wird durch die Abfrage der Kontenstammdaten erlangt. Die Möglichkeit zur Ermittlung nicht bekannter Konten und Depots entfiele beim Erlass der einstweiligen Anordnung mit dem Risiko des Fortbestands von Vollzugsdefiziten im Steuer- und Sozialrecht.
Tritt das angegriffene Gesetz dagegen am 1.4.2005 in Kraft, sind Behörden und Gerichte befugt, durch Abruf der Kontenstammdaten personenbezogene Informationen zu gewinnen, die bisher nicht zugänglich waren. Der daraus folgende Nachteil für den Steuerpflichtigen besteht nicht darin, dass den Finanzbehörden auf diese Weise einzelne der für die Besteuerung maßgebenden tatsächlichen Umstände bekannt werden können und die Steuer dementsprechend nach den gesetzlichen Vorgaben festgesetzt werden kann, sondern in der Kenntnis personenbezogener Daten über das Bestehen von Konten und Depots, die zur weiteren Ermittlung von steuererheblichen Tatsachen genutzt werden können. Die Steuerpflichtigen sind zwar ohnehin zur Offenlegung der steuererheblichen Tatsachen verpflichtet, grundsätzlich aber nicht zur Angabe von Konten. Daran ändert die Neuregelung nichts. Sie erlaubt aber eine Erkenntniserlangung über Konten und Depots ohne Mitwirkung des Steuerpflichtigen. Die damit verbundenen Nachteile treten hinter die zurück, die beim Nicht-In-Kraft-Treten des Gesetzes für die Allgemeinheit zu erwarten wären, jedenfalls solange die im Anwendungserlass verfügten Einschränkungen der Kontenabfrage beim Gesetzesvollzug beachtet werden.
Das Gesetz schließt die Ermittlung von Kontenstammdaten "ins Blaue hinein" oder durch anlasslose "Rasterfahndung" aus. Für die Schwere des Nachteils ist ferner erheblich, ob der Betroffene ausreichende Rechtsschutzmöglichkeiten hat. Die Neuregelung knüpft die Ermittlungsbefugnisse an tatbestandliche Voraussetzungen, die auch sonst bei finanzbehördlichen Ermittlungen gelten. Der vom BMF verfügte Anwendungserlass konkretisiert die Schutzvorkehrungen für die Betroffenen und schwächt damit die möglichen Belastungen durch die neuen Ermittlungsbefugnisse ab. Ein Abruf der Kontenstammdaten ist nur anlassbezogen und zielgerichtet und unter Bezugnahme auf eindeutig bestimmte Personen zulässig. Die vorgesehenen Formulare erfordern die Dokumentation des Abrufgesuchs und die Angabe des Aktenzeichens. Der Anwendungserlass stellt im Übrigen zumindest eine nachträgliche Information des Betroffenen sicher. Er kann so gegebenenfalls Rechtsschutz erlangen.
Da bei Berufsgeheimnisträgern Einschränkungen beim Kontenabruf gemacht werden und die Finanzbehörden insbesondere keine Anderkontendaten abrufen dürfen, und den Kreditinstituten gleichfalls keine weiteren erheblichen finanziellen Nachteile durch die Einrichtung von Abrufmöglichkeiten entstehen, war für eine einstweilige Anordnung kein Raum.
Link zur Entscheidung
BVerfG, Beschluss vom 22.03.2005, 1 BvR 2357/04, 1 BvQ 2/05