Rz. 60
Die Bedeutung und die Auswirkungen der Rechtsprechung des EuGH für das deutsche internationale Gesellschaftsrecht bleiben freilich umstritten. Natürlich hat der EuGH keine kollisionsrechtliche Aussage zur Ermittlung des maßgeblichen Gesellschaftsrechts getroffen. Die Art. 49 und 54 AEUV verpflichten aber die Mitgliedstaaten dazu, dass ihre Rechtssätze im Ergebnis nicht zu einer ungerechtfertigten Behinderung der Niederlassungsfreiheit führen. Auch die Kollisionsnormen haben sich an den wirtschaftlichen Grundfreiheiten des EG-Vertrages messen zu lassen. Die vom EuGH im Einzelnen festzustellende europarechtliche Dimension der Niederlassungsfreiheit bedarf daher der Übersetzung in nationales Kollisionsrecht, was wiederum innerstaatlicher Gesetzgebung und Judikatur obliegt.
Rz. 61
Diese Vorgaben zwingen, wenn man die Europarechtskonformität bereits auf kollisionsrechtlicher Ebene herstellen will, zu einer weitgehenden Aufgabe der Sitztheorie und zur Anerkennung von Ergebnissen, die in entsprechendem Umfang denen der Gründungstheorie entsprechen.
Rz. 62
Voraussetzung ist dabei zunächst, dass die Gesellschaft einen Erwerbszweck verfolgt und ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung in einem Mitgliedstaat hat (vgl. Art. 49, 54 AEUV), da dies dazu dient, ihre Zugehörigkeit zur Rechtsordnung eines Mitgliedstaates zu bestimmen. Dasselbe gilt für Gesellschaften, die in diesem Sinne einem Mitgliedstaat des EWR-Abkommens zugehören. Nach dem Recht des Gründungsstaates muss die Gesellschaft wirksam errichtet sein, um auch durch alle anderen Mitgliedstaaten anerkannt zu werden. Dies ist auch dann so und spielt gerade dann eine Rolle, wenn der Gründungsstaat, in dem sich der statutarische Gesellschaftssitz befindet, der Gründungstheorie folgt. Eine solche Gesellschaft soll berechtigt sein, ihre geschäftsmäßige Tätigkeit in jedem Mitgliedstaat unabhängig vom Ort ihrer Gründung auszuüben. Erfasst werden dabei die Fälle der primären wie auch der sekundären Niederlassungsfreiheit, wobei die letztere die Errichtung von Agenturen und Zweigniederlassungen meint. Auch wenn die Gesellschaft im Gründungsstaat nur geringe oder gar keine Geschäftstätigkeit entfaltet und von vornherein bezweckt ist, dass sie ihre Geschäftstätigkeit, ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in einem anderen Staat, etwa Deutschland, entfaltet bzw. hat, ist sie anzuerkennen. Das gilt auch, wenn sie in diesem Staat ihrer tatsächlichen Geschäftstätigkeit eine Zweigniederlassung eintragen lassen möchte, die ja tatsächlich ihre Hauptniederlassung darstellt. Ebenso ist die Gesellschaft (weiterhin) anzuerkennen, wenn sie ihren Sitz zwar ursprünglich im Gründungsstaat hatte, später aber nach Deutschland verlegt. Das Gründungsrecht "wandert" in dieser Situation mit. Die Verlagerung des Verwaltungssitzes darf nicht als Auslöser für einen Statutenwechsel angesehen werden.
Rz. 63
Nationale Maßnahmen, die die so ausgestaltete Niederlassungsfreiheit behindern, sind nur zulässig, wenn sie in nicht diskriminierender Weise angewendet werden, wenn sie aus zwingenden Gründen des Allgemeinwohls gerechtfertigt, zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet sind und nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist. Ausgeschlossen ist daneben eine missbräuchliche Ausnutzung des Niederlassungsrechts im Einzelfall, wobei hier jedoch nur an eng begrenzte Ausnahmefälle – etwa den Einsatz von Auslandsgesellschaften zu betrügerischen Zwecken – gedacht ist. Es genügt nicht, dass ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaates, der eine Gesellschaft gründen möchte, dies in einem Mitgliedstaat tut, dessen gesellschaftsrechtliche Vorschriften ihm die größtmögliche Freiheit, z.B. hinsichtlich des Mindestkapitals oder der Haftung, lassen. Im Ergebnis besteht damit für Gesellschaftsneugründungen in der Europäischen Union bzw. dem EWR Rechtswahlfreiheit, soweit das gewählte Gesellschaftsrecht eine solche Wahl annimmt.
Rz. 64
Wie weit der Umfang der aus der Niederlassungsfreiheit abzuleitenden Anerkennungspflicht zu ziehen ist, hat der EuGH nicht abschließend geklärt. Sie umfasst aber in jedem Falle die Rechtsfähigkeit der Gesellschaft, und zwar die Rechtsfähigkeit als Gesellschaft des Gründungsrechtes, womit auch im Falle des tatsächlichen Verwaltungssitzes in der Bundesrepublik Deutschland eine Transformation in die Gesellschaftsformen des deutschen Rechts unvereinbar ist. Aus der Entscheidung "Inspire Art" ergibt sich unmittelbar auch, dass der Zuzugsstaat der ausländischen Gesellschaft keine Sonderfirmierung gegenüber ihrem Gründungsrecht abverlangen darf. Über die bloße Rechtsfähigkeit hinaus erfasst wird von der Beurteilung nach dem Gründungsrecht die Verfassung der Gesellschaft und damit auch die gültigen Vertretungsverhältnisse, etwa ob Einzelvertretung zulässig oder Gesamtvertretung erforderlich ist.
Rz. ...