Rz. 42
Der in Art. 3 EGBGB statuierte Vorrang der Staatsverträge gebietet die Beachtung der bilateralen Handels- und Niederlassungsabkommen, die Deutschland mit vielen anderen Staaten geschlossen hat und in denen häufig eine gegenseitige Anerkennung von Handelsgesellschaften vorgesehen ist. Aus diesen Abkommen ergibt sich, teils ausdrücklich, teils konkludent, nach welchem Recht die betreffenden Gesellschaften zu beurteilen sind. Die Anknüpfung ist nicht einheitlich; teilweise wird auf den Sitz, teilweise auf das Gründungsrecht abgestellt, und bisweilen findet sich auch eine Kombination beider Momente. Überwiegend knüpfen die Abkommen an den Verwaltungssitz an, so dass ihnen aus Sicht der Bundesrepublik Deutschland nur deklaratorische Bedeutung zukommt. Entsprechende Verträge existieren z.B. mit Frankreich, Italien, den Niederlanden, der Türkei, Griechenland, Polen, Portugal, Tschechien und Ungarn. Ob die Gründungstheorie von Art. 15 Abs. 2 des Niederlassungsvertrages mit Spanien verfolgt wird, ist umstritten. Jedenfalls ergibt sie sich aus der Kollisionsnorm des Art. XXV Abs. 5 des deutsch-amerikanischen Vertrages vom 29.10.1954 (BGBl II 1956, 487), wonach die Rechtsfähigkeit und auch die Vertretung einer in den USA wirksam gegründeten Gesellschaft unabhängig von ihrem Verwaltungssitz dem Gründungsrecht unterliegt. Nach teilweise vertretener Meinung setzt die Anerkennung einer in den USA gegründeten Gesellschaft allerdings voraus, dass diese auch tatsächliche Beziehungen zu den USA hat und nicht ihre sämtliche Geschäftstätigkeit in der Bundesrepublik Deutschland entfaltet (völkerrechtliches genuine-link-Erfordernis). Diese Einschränkung hat die höchstrichterliche Rechtsprechung allerdings bislang ausdrücklich offengelassen. Das zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland im Nachgang zum sog. Brexit abgeschlossene "Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft einerseits und dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland andererseits", das seit dem 1.1.2021 die Rechtsbeziehungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich regelt, enthält keine ausdrücklichen Vorschriften zur Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit, so wie diese aus dem EU-Primärrecht bekannt sind und bislang als Rechtsgrundlage der EU-Binnenmobilität herangezogen werden konnten. Allerdings enthält das bezeichnete Handels- und Kooperationsabkommen Beschränkungsverbote und ein Gleichbehandlungsgebot für sog. "erfasste Unternehmen" im Sinne des Art. SERVIN.2.2. Unter diesem Begriff der erfassten Unternehmen versteht das Handels- und Kooperationsabkommen auch juristische Personen der Vertragspartei Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland (SERVIN.1.2 lit h und lit k), jedoch nur soweit diese im Hoheitsgebiet des Vereinigten Königreiches Großbritannien und Nordirland eine sog. materielle Geschäftstätigkeit entfalten (sog. "substantive business operations"). Hieraus ist zu schlussfolgern, dass eine nach dem 1.1.2021 im Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland gegründete juristische Person (z.B. englische Limited) als rechtsfähige Kapitalgesellschaft des englischen Rechts im Inland anerkannt wird, sofern sie im Gründungsstaat materielle Geschäftstätigkeit entfaltet. Sollte die nach dem 1.1.2021 im Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland gegründete juristische Person (z.B. englische Limited) ihren Verwaltungssitz nicht im Gründungsstaat haben sondern im Inland, dann ist auf diese Gesellschaft (Briefkastengesellschaft oder Scheinauslandsgesellschaft) die Sitztheorie des deutschen IPR anzuwenden. Die rechtliche Konsequenz aufgrund der Anwendung der Sitztheorie besteht bei der ausländischen Kapitalgesellschaft mit Verwaltungssitz im Inland darin, dass das deutsche sachliche Gesellschaftsrecht zur Anwendung berufen wird. Hiernach kann die englische Kapitalgesellschaft mit effektivem Verwaltungssitz im Inland nicht als rechtsfähige Kapitalgesellschaft des deutschen Gesellschaftsrechts behandelt werden, da ihr die konstitutive Handelsregistereintragung als Kapitalgesellschaft im Inland fehlt. Die Eintragung der ausländischen Kapitalgesellschaft im Companies House im Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland ersetzt die inländische Handelsregistereintragung nicht. Im Ergebnis führt dies dazu, dass die nach dem 1.1.2021 gegründete Limited mit Satzungssitz und Registratur im Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland und effektivem (tatsächlichen) Verwaltungssitz im Inland aus deutscher Sicht als GbR oder OHG zu behandeln sein wird, soweit sie mehrere Gesellschafter hat (wegen der Anknüpfung an den tatsächlichen Verwaltungssitz) und aus Sicht des englischen Rechts als rechtsfähige Kapitalgesellschaft. Es entsteht ein sog. "hinkendes Rechtsverhältnis", da Gründungsstaat und Aufnahmestaat das Rechtssubjekt untersc...