Rz. 48
Bei Sitzverlegungen in einen anderen Staat trat nach bisheriger deutscher Sicht regelmäßig ein Statutenwechsel ein. Die Rechtsfähigkeit bestand nur dann fort, wenn dies sowohl dem alten Statut als auch dem neuen entsprach. An dieser Sichtweise wird man ungeachtet der neueren Rechtsprechung des EuGH zur grenzüberschreitenden Sitzverlegung von in der EU gegründeten Gesellschaften innerhalb des EU-Binnenraums festzuhalten haben.
Rz. 49
Erfolgt eine Sitzverlegung vom Ausland nach Deutschland, so führte dies in der Vergangenheit wegen der im Inland herrschenden Sitztheorie zwingend dazu, dass die Gesellschaft infolge des Zuzuges dem deutschen Recht unterliegt (anders allerdings bei Verlegung aus dem europäischen Ausland, siehe Rdn 57 ff.). Sie musste daher nach den hier bestehenden Vorschriften neu gegründet werden. Bis zu einer solchen Neugründung lag eine Scheinauslandsgesellschaft vor, die in Deutschland als Gesellschaft bürgerlichen Rechts oder als OHG einzuordnen und zu behandeln war. Zumindest bei Nicht-EU-Gesellschaften wird man an dieser Sichtweise auf der Grundlage der im Inland noch herrschenden Sitztheorie festzuhalten haben. Bei EU-Gesellschaften folgt die Rechtsprechung des BGH der Sitztheorie nicht mehr, sondern geht auf der Grundlage der EU-Verträge und der Rechtsprechung des EuGH zur Niederlassungsfreiheit der EU-Gesellschaften von der Gründungstheorie aus. Damit und auf der Grundlage der Entscheidungen des EuGH im Sinne von Vale und Polbud wird man keine Neugründung einer Inlandsgesellschaft für erforderlich halten, sondern die Hereinverschmelzung und den Hereinformwechsel erlauben. Mit dem Gesetz zur Umsetzung der Umwandlungsrichtlinie (Richtlinie (EU) 2019/2121, ABl L 321/1) und zur Änderung weiterer Gesetze vom 23.2.2023 hat der inländische Gesetzgeber im UmwG (§§ 305 ff.) Vorschriften für die grenzüberschreitende Verschmelzung (§§ 305–319 UmwG) und den grenzüberschreitenden Formwechsel (§§ 333–345 UmwG) neu eingeführt, in denen die Zulässigkeit grenzüberschreitender Verschmelzungen (§ 305 Abs. 1 UmwG) und grenzüberschreitender Formwechsel (§ 333 Abs. 1 UmwG) unter Beteiligung von EU-Gesellschaften und EWR-Gesellschaften gesetzlich anerkannt und inhaltlich ausgestaltet worden ist. In konsequenter Fortschreibung der EuGH-Rechtsprechung wird somit die Sitzverlegung in das Inland unter Aufrechterhaltung der Rechtsträgeridentität rechtlich ermöglicht und gewährleistet.
Rz. 50
Wird in umgekehrter Richtung der tatsächliche Verwaltungssitz einer Gesellschaft von Deutschland in das Ausland verlegt (Wegzugsfall), ist das bei den Kapitalgesellschaften wegen § 4a GmbHG und § 5 AktG möglich, ohne Konsequenzen für den Rechtsträger herbeizuführen. Lediglich der Satzungssitz muss nach den gezeigten Vorschriften im Inland belegen sein. Wird der Satzungssitz entgegen §§ 4a GmbHG, 5 AktG in das Ausland verlegt, hat das nach h.M. grundsätzlich die Auflösung der Gesellschaft im Inland zur Folge. Allerdings ist nach der jüngeren Rechtsprechung eine identitätswahrende Satzungssitzverlegung in das EU-Ausland bei gleichzeitigem Rechtsformwechsel möglich. Das gilt nach der Rechtsprechung des EuGH selbst dann, wenn der Verwaltungssitz der Gesellschaft im Inland verbleibt. Diese Rechtsprechung des EuGH hat zwischenzeitlich zur Richtlinie (EU) 2019/2121 vom 27.11.2019 über grenzüberschreitende Umwandlungen, Verschmelzungen und Spaltungen geführt. Diese Richtlinie ist mit dem Gesetz zur Umsetzung der Umwandlungsrichtlinie und zur Änderung weiterer Gesetze vom 23.2.2023 in nationales Recht umgesetzt worden. Der Gesetzgeber hat im UmwG (§§ 305 ff.) Vorschriften für die grenzüberschreitende Verschmelzung (§§ 305–319 UmwG) und den grenzüberschreitenden Formwechsel (§§ 333–345 UmwG) neu eingeführt, in denen die Zulässigkeit grenzüberschreitender Verschmelzungen (§ 305 Abs. 1 UmwG) und grenzüberschreitender Formwechsel (§ 333 Abs. 1 UmwG) unter Beteiligung von EU-Gesellschaften und EWR-Gesellschaften gesetzlich anerkannt und inhaltlich ausgestaltet worden ist. Hierin ist klargestellt worden, dass der grenzüberschreitende identitätswahrende Rechtsformwechsel stattfinden kann.