Leitsatz (amtlich)

1. § 305 Satz 1 StPO steht einer Beschwerde des Angeklagten gegen die Gewährung der Akteneinsicht an den Verletzten nicht entgegen.

2. Zur Abwägung der berechtigten Interessen des Verletzten an der Akteneinsicht und der schutzwürdigen Interessen des Angeklagten an deren Versagung.

 

Normenkette

StPO § 406e

 

Verfahrensgang

LG Berlin (Entscheidung vom 31.03.2015; Aktenzeichen (580) 272 Js 108/13 Ns (57/14))

 

Tenor

Die Beschwerde des Angeklagten gegen die Verfügung des Vorsitzenden der 80. kleinen Strafkammer des Landgerichts Berlin vom 31. März 2015 wird verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

 

Gründe

I.

Das Amtsgericht Tiergarten hat den Angeklagten am 6. Januar 2014 wegen exhibitionistischer Handlungen, die er vor den Zeuginnen Hu vorgenommen haben soll, zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu je 70 Euro verurteilt. Gegen ihn ist seit dem 26. März 2014 bei der 80. kleinen Strafkammer des Landgerichts Berlin das Berufungsverfahren anhängig. Am 11. Februar 2015 zeigte Rechtsanwalt He die Vertretung der Geschädigten Hu an und bat um Überlassung der Verfahrensakten zwecks Durchsetzung der seinen Mandantinnen zustehenden Unterlassungs- und Schadensersatzansprüche. Er wiederholte das Akteneinsichtsgesuch mit Schriftsatz vom 18. März 2015. Der Strafkammervorsitzende verfügte daraufhin am 31. März 2015 die Überlassung der Akten - mit Ausnahme des den Angeklagten betreffenden forensisch-psychiatrischen Gutachtens und der Auskunft aus dem Bundeszentralregister - an Rechtsanwalt He. Die Akteneinsicht wurde im April 2015 durchgeführt.

Nachdem der Verteidiger des Angeklagten durch eigene ergänzende Akteneinsicht von der Rechtsanwalt He gewährten Akteneinsicht Kenntnis erlangt hatte, legte er für den Angeklagten Beschwerde gegen die zugrunde liegende richterliche Entscheidung vom 31. März 2015 ein und beantragte festzustellen, dass die Gewährung der Akteneinsicht rechtswidrig war. Der Beschwerdeführer macht geltend, dass ein berechtigtes Interesse der Zeuginnen Hu an der Akteneinsicht nicht gegeben sei und dieser zudem schutzwürdige Interessen seinerseits entgegengestanden hätten. Er beanstandet ferner, dass ihm vor der Entscheidung über den Akteneinsichtsantrag kein rechtliches Gehör gewährt wurde.

Der Strafkammervorsitzende hat den auf den 26. August 2015 anberaumten Termin zur Berufungshauptverhandlung auf Antrag des Beschwerdeführers aufgehoben und der Beschwerde nicht abgeholfen.

II.

1. Die Beschwerde ist nach § 304 Abs. 1 StPO zulässig. § 305 Satz 1 StPO, der auch für Entscheidungen des Berufungsgerichts oder des Vorsitzenden dieses Gerichts ab Aktenvorlage nach § 321 Satz 2 StPO gilt (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 58. Aufl., § 305 Rdn. 2 f.), steht der Zulässigkeit nicht entgegen.

Zwar wird ein Beschwerderecht des Angeklagten gegen die Versagung der Akteneinsicht nach § 147 StPO durch das erkennende Gericht teilweise unter Hinweis auf § 305 Satz 1 StPO verneint (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, aaO., § 147 Rdn. 41; a.A. Laufhütte/Willnow in Karlsruher Kommentar, StPO 7. Aufl., § 147 Rdn. 28; jeweils m.w.N. zum Streitstand). Hieraus lässt sich indes für die vorliegende Konstellation nichts herleiten. Der Angeklagte wendet sich gegen die Bewilligung der Akteneinsicht an den Rechtsanwalt der Geschädigten. Insoweit ist § 406e Abs. 4 Satz 4 StPO als lex specialis einschlägig. Danach sind gerichtliche Entscheidungen über Akteneinsichtsanträge des Verletzten (nur dann) unanfechtbar, wenn sie (vom Ermittlungsgericht) im Ermittlungsverfahren getroffen werden. Hieraus folgt im Umkehrschluss, dass gegen entsprechende Entscheidungen, die nach Abschluss der Ermittlungen durch das Gericht - auch durch das erkennende Gericht - getroffen werden, die Beschwerde statthaft ist (vgl. HansOLG Hamburg StraFo 2015, 23; 2015, 328; OLG Naumburg NStZ 2011, 118; Meyer-Goßner/Schmitt, aaO., § 406e Rdn. 11; Wenske in Löwe/Rosenberg, StPO 26. Aufl. [Nachtrag], § 406e Rdn. 8; Zabeck in Karlsruher Kommentar, aaO., § 406e Rdn. 13). Das Beschwerderecht steht insoweit nicht nur - entsprechend der vom Gesetzgeber mit der Einführung des § 406e Abs. 4 Satz 4 StPO verfolgten Absicht (vgl. BT-Drucks. 16/12098, S. 36) - dem Verletzten (im Fall der Versagung der Akteneinsicht) zu; denn eine derartige Beschränkung ist dem Gesetzeswortlaut nicht zu entnehmen. Anfechtungsberechtigt ist vielmehr auch der durch die Bewilligung der Akteneinsicht in seinen Grundrechten betroffene Angeklagte (vgl. HansOLG Hamburg StraFo 2015, 23; OLG Saarbrücken ZWH 2013, 204 - juris; Meyer-Goßner/Schmitt, aaO., § 406e Rdn. 11). Danach ist auch vorliegend ein Beschwerderecht des Angeklagten gegen die Entscheidung des Vorsitzenden der Berufungskammer gegeben.

Der Zulässigkeit des Rechtsmittels steht auch nicht entgegen, dass die Akteneinsicht bereits ausgeführt worden ist; denn der Strafkammervorsitzende hat es versäumt, dem Angeklagten vor der Entscheidung über den Akteneinsichtsantrag des Verletzten entsprechend § 33 StPO rechtliches Gehör...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge