Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechtsanwaltsvergütung: ["Haft"-] Zuschlag bei vorläufiger Festnahme
Leitsatz (redaktionell)
1. Für die Entstehung des Anspruchs auf die Gebühr mit Zuschlag kommt es nicht darauf an, ob im Einzelfall Umstände gegeben sind, die zu konkreten Erschwernissen der Tätigkeit des Rechtsanwalts geführt haben; denn die (amtliche) Vorbemerkung 4 Abs. 4 zu Teil 4 VV RVG enthält eine generelle, gerade nicht auf den Einzelfall bezogene Regelung ohne Ausnahmen oder Einschränkungen ihrer Anwendung.
2. Die Zuschlagsgebühr fällt deshalb auch an, wenn sich der Mandant aufgrund seiner vorläufigen Festnahme nach § 127 Abs. 1 bzw. § 127b Abs. 1 StPO nicht auf freiem Fuß befand.
Verfahrensgang
LG Berlin (Beschluss vom 23.03.2006) |
Gründe
Die Verurteilte - damals noch Beschuldigte - ist am 25. Juli 2005 - ein Küchenmesser in der Handtasche mit sich führend - auf frischer Tat beim Ladendiebstahl in Berlin-Neukölln betroffen, vorläufig festgenommen und wegen Fluchtgefahr dem Polizeigewahrsam zugeführt worden, um sie im beschleunigten Verfahren vor Gericht zu stellen oder sie zum Erlass eines Haftbefehls dem Ermittlungsrichter vorzuführen. Auf die tags darauf von der Amtsanwaltschaft erhobene Schnellgerichtsanklage ist die Festgenommene im beschleunigten Verfahren noch am selben Nachmittag dem Amtsgericht Tiergarten in Berlin zur Verhandlung vorgeführt worden. Es hat die Hauptverhandlung durchgeführt und die Festgenommene noch an diesem Tag, dem 26. Juli 2005, wegen Diebstahls rechtskräftig zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu je 5,00 Euro verurteilt. Im Anschluss an die Urteilsverkündung und die Aufnahme des beiderseitig erklärten Rechtsmittelverzichts in die Sitzungsniederschrift hat das Amtsgericht ausweislich des entsprechenden Vermerks in der Sitzungsniederschrift den Befehl erteilt, die Verurteilte freizulassen ("Freilassungsbefehl ist erteilt.").
Auf den Antrag der Amtsanwaltschaft auf Bestellung eines Verteidigers gemäß § 418 Abs. 4 StPO hatte das Amtsgericht mit eingangs der Hauptverhandlung verkündetem Beschluss der Angeklagten Rechtsanwalt ## für das beschleunigte Verfahren als Pflichtverteidiger beigeordnet. Er hat in seinem Antrag auf Festsetzung der Pflichtverteidigervergütung vom 6. Oktober 2005 die angefallenen Gebühren jeweils mit dem - nach Vorbemerkung 4 Abs. 4 zu Teil 4 VV RVG bei Verteidigung eines nicht auf freiem Fuß befindlichen Beschuldigten hinzukommenden - Zuschlag angesetzt. Er hat sie wie folgt festzusetzen beantragt (Erläuterungen in Klammern hinzugefügt):
Gebühr Nr. 4101 VV
(= Gebühr 4100 [Grundgebühr] mit Zuschlag) 162,00 Euro
Gebühr Nr. 4107 VV
(= Gebühr 4106 [Verfahrensgebühr für den ersten Rechtszug vor dem Amtsgericht] mit Zuschlag) 137,00 Euro
Gebühr Nr. 4109 VV
(= Gebühr 4108 [Terminsgebühr je Hauptverhandlungstag im ersten Rechtszug vor dem Amtsgericht] mit Zuschlag) 224,00 Euro
Auslagen Nr. 7002 VV
(= Pauschale für Entgelte für Post- und Telekommunikations-
dienstleistungen) 20,00 Euro
Zwischensumme netto 543,00 Euro
Auslagen Nr. 7008 VV
(= Umsatzsteuer, hier 16% Mehrwertsteuer) 86,88 Euro
Gesamtbetrag 629,88 Euro
Die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle hat dem Rechtsanwalt die Haftzuschläge für die Grund- und die Verfahrensgebühr verwehrt, da nach damaliger Aktenlage sich ihr das Bild bot, dass er vor der Hauptverhandlung keinen Kontakt mit der Angeklagten gehabt hatte. Daraus ergab sich ein um 63,80 Euro niedrigerer Gesamtbetrag als beantragt. Im Einzelnen sah die Festsetzung der Urkundsbeamtin vom 14. Oktober 2005 folgendermaßen aus:
Gebühr Nr. 4100 VV 132,00 (anstatt 162,00) Euro
Gebühr Nr. 4106 VV 112,00 (anstatt 137,00) Euro
Gebühr Nr. 4109 VV 224,00 (wie beantragt) Euro
Auslagen Nr. 7002 VV 20,00 (wie beantragt) Euro
Zwischensumme netto 488,00 (anstatt 543,00) Euro
Auslagen Nr. 7008 VV 78,08 (anstatt 86,88) Euro
Gesamtbetrag 566,08 (anstatt 629,88) Euro
Differenz 63,80 Euro
In seiner gegen die Kürzung der beantragten Festsetzung gerichteten Erinnerung hat der Rechtsanwalt geltend gemacht, dass wegen Aufnahme des ersten Kontakts mit der Angeklagten ca. 30 Minuten vor der Hauptverhandlung die Gebühren sehr wohl mit dem Zuschlag entstanden seien. Auf die Nichtabhilfe der Kostenbeamtin hin hat der mit der Hauptsache befasst gewesene Richter am Amtsgericht mit Beschluss vom 19. Januar 2006 auf die Erinnerung die Vergütung gemäß dem Antrag des Pflichtverteidigers festgesetzt, mithin ihm die vorenthaltenen Zuschläge zugesprochen. In den Gründen hat er, wie schon zuvor in einem Aktenvermerk vom 3. Januar 2006, mitgeteilt, dass schon vor Beginn der Hauptverhandlung der Verteidiger herangezogen worden war und einen ersten Kontakt mit der Angeklagten im Polizeigewahrsam zur Vorbereitung der Verteidigung aufgenommen hatte.
Die gegen diesen Beschluss des Amtsgerichts vom Bezirksrevisor des Amtsgerichts eingelegte, gemäß den §§ 56 Abs. 2 Satz 1, 33 Abs. 3 Satz 2 RVG vom Amtsgericht zugelassene Beschwerde hat das Landgericht - nach Übertragung der Sache vom Einzelrichter auf die Kammer - mit dem...