Verfahrensgang
LG Berlin (Entscheidung vom 25.05.2011; Aktenzeichen 528 Qs 42/11) |
Tenor
Auf die weitere Beschwerde der Staatsanwaltschaft Berlin wird der Beschluss des Landgerichts Berlin vom 25. Mai 2011 aufgehoben.
Gegen den Beschuldigten ergeht der anliegende Haftbefehl.
Gründe
I. Die Staatsanwaltschaft führt gegen den Beschuldigten ein Ermittlungsverfahren wegen Bedrohung und wegen des unerlaubten Führens einer halbautomatischen Kurzwaffe. Auf ihren Antrag hat das Amtsgericht Tiergarten am 30. September 2010 einen Haftbefehl erlassen, der bislang noch nicht vollstreckt werden konnte, weil der Beschuldigte sich verborgen hält.
Den Verteidigern des Beschuldigten, der von dem Haftbefehl Kenntnis hat, ist bislang Akteneinsicht nur in das Protokoll der Beschuldigtenvernehmung und das waffentechnische Gutachten des LKA gewährt worden. Die weitergehende Kenntnis der Akten hat ihnen die Staatsanwaltschaft wegen andernfalls drohender Gefährdung des Untersuchungszweckes versagt.
Auf die Haftbeschwerde des Beschuldigten hat das Landgericht Berlin den Haftbefehl mit der Begründung aufgehoben, die Versagung der umfassenden Akteneinsicht verletzte den Anspruch des Beschuldigten auf rechtliches Gehör, weil schützenswerte Interessen ihr nicht entgegenstünden. Sie könne daher ihrer Entscheidung nur den Akteninhalt zu Grunde legen, über den der Angeklagte zuvor unterrichtet worden sei, also nur die Angaben des Beschuldigten im Verfahren sowie das waffentechnische Gutachten. Auf dieser Grundlage bestehe für den Vorwurf des Verstoßes gegen das Waffengesetz ein dringender Tatverdacht nur wegen des Führens wesentlicher Waffenbestandteile, für den der Bedrohung sei ein solcher nicht erkennbar. Eine Fluchtgefahr erwachse daraus nicht.
Gegen diesen Beschluss wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrem Rechtsmittel.
II. Die gemäß § 310 Abs. 1 Nr. 1 StPO zulässige weitere Beschwerde ist begründet. Die Voraussetzungen für den Erlass eines Haftbefehls gemäß § 112 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 3 StPO liegen vor. Entgegen der Ansicht des Landgerichts kann zur Prüfung dieser Frage der gesamte Akteninhalt verwertet werden, denn die Staatsanwaltschaft hat dem Beschuldigten zu Recht nur eine Akteneinsicht entsprechend § 147 Abs. 2 Satz 1 StPO gewährt. Die fehlende Kenntnis des Beschuldigten von wesentlichen Aktenbestandteilen hindert den Senat nicht, für seine Prüfung den gesamten Akteninhalt heranzuziehen. Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) wird dadurch nicht verletzt.
1. Bei einem nicht vollzogenen Haftbefehl ist nach Abwägung der widerstreitenden Interessen im Einzelfall zu ermitteln, ob der flüchtige Beschuldigte einen Anspruch auf Akteneinsicht hat.
a) Das Recht auf Akteneinsicht im Ermittlungsverfahren ist einfachgesetzlich geregelt in § 147 StPO.
Während nach vermerktem Abschluss der Ermittlungen gemäß § 147 Abs. 1 StPO dem Verteidiger Einsicht in die gesamten Akten zu gewähren ist, erfährt dieses Recht im Ermittlungsverfahren gemäß § 147 Abs. 2 Satz 1 StPO eine Einschränkung. Dem Verteidiger kann die Akteneinsicht in diesem Verfahrensstadium versagt werden, soweit dadurch der Untersuchungszweck gefährdet würde.
Diese Einschränkung ist verfassungsgemäß, da das Ermittlungsverfahren der Klärung eines Verdachtes dient und deshalb nicht von Anfang an "offen", also unter Bekanntgabe aller ermittelten Tatsachen, geführt werden kann. Mit Blick auf den rechtsstaatlichen Auftrag zur möglichst umfassenden Wahrheitsermittlung im Strafverfahren (vgl. BVerfG NJW 1990, 563-566) ist es nicht zu beanstanden, dass die Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren einen Informationsvorsprung hat und das Informationsinteresse des Beschwerdeführers bis zu dessen Abschluss zurücksteht (vgl. BVerfG wistra 2004, 179).
b) Werden im Ermittlungsverfahren Zwangsmaßnahmen gegen den Beschuldigten ergriffen, ist im Einzelfall zu prüfen, ob ihm daraus vor Abschluss der Ermittlungen ein Anspruch auf Akteneinsicht erwächst oder ob die Staatsanwaltschaft ihm die Gefährdung des Untersuchungszweckes entgegen halten kann.
Gesetzlich geregelt ist dies im Fall vollzogener Untersuchungshaft. Hier erweitert § 147 Abs. 2 Satz 2 StPO die Rechte des Beschuldigten. Befindet er sich in Haft, sind seinem Verteidiger die für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung wesentlichen Unterlagen in geeigneter Weise zur Verfügung zu stellen, ohne dass es auf die Gefährdung des Untersuchungszweckes ankäme.
Über diesen gesetzlich geregelten Fall hinaus können auch andere vollzogene Zwangsmaßnahmen ein entsprechend erweitertes Recht auf Akteneinsicht begründen. Anerkannt ist dies für den dinglichen Arrest. Die Weigerung der Ermittlungsbehörden, einem Beschuldigten nach Erwirken eines dinglichen Arrestes in sein Vermögen, Einsicht in die Akten zu gewähren, nimmt diesem in verfassungswidriger Weise die Möglichkeit, die Rechtmäßigkeit der ihn erheblich belastenden Maßnahme zeitnah zu überprüfen und sich gegen sie effektiv, spätestens im Beschwerdeverfahren vor Geric...