Entscheidungsstichwort (Thema)
Anforderungen an ein Abwesenheitsurteil nach § 74 Abs. 2 OWiG bei Vorliegen von ärztlichen Bescheinigungen
Orientierungssatz
Orientierungssätze:
1. Für eine formgerechte Begründung der Verfahrensrüge der Verletzung des § 74 Abs. 2 OWiG müssen im Fall einer Erkrankung die Art der Erkrankung, die aktuell bestehende Symptomatik und die daraus zur Terminzeit resultierenden konkreten körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen dargelegt werden, die eine Beteiligung an der Hauptverhandlung unmöglich gemacht haben oder unzumutbar erscheinen lassen, und dass dies dem Gericht zum Zeitpunkt der Entscheidung bekannt war oder im Rahmen seiner Aufklärungspflicht hätte bekannt sein müssen.
2. Ein Betroffener ist nicht zur Glaubhaftmachung oder zum Nachweis der vorgebrachten Entschuldigungsgründe verpflichtet.
3. Die bloße Mitteilung, der Betroffene sei (verhandlungsunfähig) erkrankt, bietet für sich genommen noch keinen Anhaltspunkt für eine genügende Entschuldigung und Anlass, im Freibeweis Feststellungen zur Verhandlungs(un)fähigkeit des Betroffenen zu treffen.
4. Eine ärztliche Bescheinigung löst die gerichtliche Aufklärungspflicht aus, weil sich aus ihr in aller Regel hinreichende - wenn auch im Rahmen der gerichtlichen Nachforschungspflicht gegebenenfalls zu verifizierende - Anhaltspunkte für eine genügende Entschuldigung ergeben.
5. Soweit das Tatgericht trotz einer die "Verhandlungsunfähigkeit" attestierenden ärztlichen Bescheinigung das Erscheinen des Betroffenen in der Hauptverhandlung für möglich und zumutbar hält, muss es im Urteil darlegen, warum es von der Unrichtigkeit der Bescheinigung überzeugt ist oder warum es die Krankheit in ihren Auswirkungen für so unbedeutend hält, dass sie einer Teilnahme an der Hauptverhandlung nicht entgegensteht.
Normenkette
GG Art. 103 Abs. 1; OWiG § 74 Abs. 2, § 79 Abs. 3, § 80 Abs. 1, 3; StPO § 344 Abs. 2
Verfahrensgang
AG Berlin-Tiergarten (Entscheidung vom 27.07.2021; Aktenzeichen 323 OWi 1177/20) |
Tenor
Auf den Antrag des Betroffenen wird die Rechtsbeschwerde gegen das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 27. Juli 2021 zugelassen.
Auf die Rechtsbeschwerde wird das Urteil mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde - an das Amtsgericht zurückverwiesen.
Gründe
I.
Der Polizeipräsident in Berlin hat mit Bußgeldbescheid vom 18. Juni 2020 gegen den Betroffenen wegen (einfachen) Rotlichtverstoßes unter bußgelderhöhender Berücksichtigung von Voreintragungen ein Bußgeld in Höhe von 180,00 Euro verhängt. Nachdem der Betroffene gegen den Bußgeldbescheid form- und fristgerecht Einspruch eingelegt hatte, hat das Amtsgericht Tiergarten Termin zur Hauptverhandlung für den 27. Juli 2021 anberaumt, zu dem der Betroffene und sein Verteidiger ordnungsgemäß geladen worden sind.
Mit Schriftsatz vom 26. Juli 2021, der dem Gericht vor Aufruf der Sache vorgelegen hat, hat der Verteidiger für den Betroffenen die Verlegung des Hauptverhandlungstermins beantragt, da der Betroffene "akut verhandlungsunfähig erkrankt" sei. Der Verteidiger hat ein ärztliches Attest vom 26. Juli 2021 angefügt, in dem - unter Angabe des Namens und der Kontaktdaten der ausstellenden Ärztin - ausgeführt wird, dass der Betroffene "aufgrund einer akuten Erkrankung derzeit arbeitsunfähig geschrieben und [..] somit aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage [sei], an gerichtlichen Verhandlungen bzw. Anhörungen teilzunehmen". Aus der beigefügten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom selben Tag ergibt sich eine Arbeitsunfähigkeit vom 26. bis 30. Juli 2021. In seinem Schriftsatz führt der Verteidiger weiter aus, dass der Betroffene im August 2021 seinen Erholungsjahresurlaub antreten werde.
Nachdem weder der Betroffene noch sein Verteidiger zum Hauptverhandlungstermin erschienen waren, hat das Amtsgericht den Einspruch des Betroffenen mit Urteil vom 27. Juli 2021 nach § 74 Abs. 2 OWiG verworfen. Zur Begründung hat das Amtsgericht ausgeführt, dass die Verhandlungsunfähigkeit des Betroffenen weder nachvollziehbar vorgetragen noch glaubhaft gemacht worden sei. Eine Diagnose sei in der ärztlichen Bescheinigung nicht angegeben, und es sei nicht ersichtlich, aus welchen Gründen eine Reise- oder Verhandlungsunfähigkeit folge. Die Erklärung, der Betroffene trete im Anschluss an seine kurzzeitige Erkrankung im August Erholungsurlaub an, lasse eine Verhandlungsunfähigkeit wenig wahrscheinlich erscheinen.
Gegen dieses Urteil wendet sich der Betroffene mit seinem Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde. Er macht die Verletzung rechtlichen Gehörs geltend, erhebt die allgemeine Sachrüge und beantragt die Aufhebung des Urteils des Amtsgerichts Tiergarten.
II.
Der Zulassungsantrag und die Rechtsbeschwerde haben Erfolg.
1. Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG zuzulassen, weil es geboten ist, das Urteil wegen Versagung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) aufzuheben.
a) Die Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs...