Leitsatz (amtlich)
Ein in der Hauptverhandlung erklärter Rechtsmittelverzicht ist unwirksam, wenn entgegen § 140 StPO ein Verteidiger in der Hauptverhandlung nicht mitgewirkt und der Angeklagte unmittelbar nach der Urteilsverkündung auf Rechtsmittel verzichtet hat.
Verfahrensgang
AG Berlin (Entscheidung vom 04.10.2007) |
Tenor
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten in Berlin vom 4. Oktober 2007 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Rechtsmittels - an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Tiergarten zurückverwiesen.
Gründe
Das Amtsgericht Tiergarten in Berlin hat den Angeklagten wegen eines vorsätzlichen und eines fahrlässigen Vergehens nach § 6 Abs. 1 und 2 PflversG zu einer Gesamtgeldstrafe von 120 Tagessätzen zu je 10,-- Euro verurteilt. Die Sprungrevision des Angeklagten, mit der er das Verfahren beanstandet und die Verletzung sachlichen Rechts rügt, hat Erfolg.
Die ordnungsgemäß erhobene Verfahrensrüge aus §§ 338 Nr. 5, 140 Abs. 2 StPO greift durch.
a)
Der Rechtsmittelverzicht, den der in der Hauptverhandlung anwaltlich nicht vertretene Angeklagte im Anschluss an die Urteilsverkündung erklärt hat, war unwirksam.
Zwar kann ein erklärter Rechtsmittelverzicht als Prozesshandlung grundsätzlich weder widerrufen noch angefochten oder sonst zurückgenommen werden. In der Rechtsprechung ist aber anerkannt, dass in besonderen Fällen schwerwiegende Willensmängel oder die Art und Weise des Zustandekommens des Rechtsmittelverzichts dazu führen können, dass eine Verzichtserklärung von Anfang an unwirksam ist. Ein solcher Ausnahmefall wird unter anderem dann angenommen, wenn entgegen § 140 StPO ein Verteidiger in der Hauptverhandlung nicht mitgewirkt und der Angeklagte unmittelbar nach der Urteilsverkündung auf Rechtsmittel verzichtet hat. Der von einem Angeklagten in derartiger Weise abgegebene Rechtsmittelverzicht wird als unwirksam angesehen, weil sich der Angeklagte nicht mit einem Verteidiger beraten konnte, der ihn vor übereilten Erklärungen hätte abhalten können (vgl. KG StV 2006, 685; Meyer-Goßner, StPO 51. Aufl., § 302 Rdn. 25 a m.N.).
Vorliegend lag ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO vor. Im Rahmen der Vorschrift sind bei der Schwere der Tat nicht nur die Rechtsfolgeentscheidung des gegenständlichen Verfahrens, sondern auch sonstige schwerwiegende Nachteile zu berücksichtigen, die der Angeklagte infolge der Verurteilung zu gegenwärtigen hat, wie etwa einen Bewährungswiderruf in anderer Sache (vgl. Meyer-Goßner a.a.O., § 140 Rdn. 23, 25 m.N.). Auch bei einer Verurteilung zu weniger als einem Jahr Freiheitsentzug kann die Beiordnung eines Verteidigers geboten sein, wenn als Folge der Verurteilung die Summe der von einem möglichen Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung betroffenen und der im anhängigen Verfahren verhängten Strafe ein Jahr erreicht oder darüber liegt (vgl. KG, Beschluss vom 17. April 1998 - (4) 1 Ss 82/98 (37/98) - [[...]]). So verhält es sich hier. Ein Strafrest von mehr als zwei Jahren Jugendstrafe aus dem Urteil des Landgerichts Berlin vom 24. April 2001 - (524) 69 Js 37/00 KLs (7/01) - ist am 27. Oktober 2005, rechtskräftig seit dem 4. November 2005, auf vier Jahre zur Bewährung ausgesetzt worden. Tatzeit in vorliegender Sache sind der 9. Januar und 23. April 2007.
Soweit zur Wirksamkeit des Rechtsmittelverzichtes die Meinung vertreten wird, es komme lediglich darauf an, ob der Angeklagte sich der Bedeutung und Tragweite seiner Erklärung bewusst gewesen sei oder nicht (vgl. OLG Brandenburg StraFO 2001, 136), folgt der Senat dem nicht (vgl. KG a.a.O.; s. auch Meyer-Goßner a.a.O., § 302 Rdn. 25 a). Im Übrigen schließt der Senat bei der hier gegebenen Verfahrenslage aus, dass der Angeklagte sich der Bedeutung und Tragweite seines Rechtsmittelverzichts bewusst gewesen ist. Die dienstliche Äußerung der Richterin am Amtsgericht besagt dazu nichts Gegenteiliges.
b)
Damit hat die Rüge aus §§ 338 Nr. 5, 140 Abs. 2 StPO Erfolg.
Der Senat hebt nach alledem das angefochtene Urteil auf und verweist die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Abteilung des Amtsgerichts zurück. Auf den letzten Absatz der Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft Berlin vom 3. Juli 2008 zu dem Rechtsmittel weist er hin.
Fundstellen