Leitsatz (amtlich)
Von den Zwangsmitteln des § 230 Abs. 2 StPO darf kein Gebrauch gemacht werden, wenn der Ladung eines Angeklagten, der nach Aktenlage der deutschen Schriftsprache nicht hinreichend mächtig ist, keine Übersetzung der nach § 216 Abs. 1 Satz 1 StPO vorgesehenen Warnung, dass im Falle des unentschuldigten Ausbleibens die Verhaftung oder Vorführung erfolgen werde, in eine ihm verständliche Sprache beigefügt wurde.
Verfahrensgang
LG Berlin (Entscheidung vom 06.08.2020; Aktenzeichen (429 Ds) 287 Js 249/20 (13/20) Jug - 518 Qs 16/20) |
AG Berlin-Tiergarten (Entscheidung vom 13.07.2020) |
Tenor
1. Auf die weitere Beschwerde der Angeklagten werden der Beschluss des Landgerichts Berlin - Jugendkammer - vom 6. August 2020 und der Haftbefehl des Amtsgerichts Tiergarten - Jugendgericht - vom 13. Juli 2020 aufgehoben.
2. Die Landeskasse Berlin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die der Angeklagten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen.
Gründe
I.
Der Angeklagten wird vorgeworfen, sich an jeweils zwei Tagen im Januar bzw. August 2019 als Jugendliche mit Verantwortungsreife des Erschleichens von Leistungen in vier Fällen durch Benutzung von U-Bahnen der Berliner Verkehrsbetriebe ohne Bezahlung der Fahrtentgelte schuldig gemacht zu haben.
Im Vorfeld der schließlich auf den 13. Juli 2020 anberaumten Hauptverhandlung hatte der (ehemalige) Bewährungshelfer der Angeklagten unter dem 21. April 2020 auf Anfrage des Gerichts mitgeteilt, dass die Angeklagte ihm in einem letzten Gespräch am 1. Oktober 2019 gesagt habe, sie wolle im Oktober 2019 (die Angabe "2020" in dem Schreiben ist nach dem Gesamtzusammenhang ein ersichtlicher Schreibfehler) zu ihrer Oma nach A. in R. und werde dort in der Straße D bei der Oma - Frau T - wohnen. Seither habe er nichts mehr von ihr gehört. Da er aber im Kontakt zum Jobcenter stehe, werde er eine Information erhalten, sobald die Angeklagte in Berlin wieder im Leistungsbezug stehe. Zu der Anschrift E. Straße wies der Bewährungshelfer darauf hin, dass dort entgegen früherer Annahme kein "Wohnheim" im eigentlichen Sinne bestehe, sondern vielmehr ein Privatvermieter agiere, der an rumänische Bürger vermiete und hierfür Geld vom Sozialamt beziehe, ohne jedoch der behördlichen Auflage, ordnungsgemäße Mietverträge abzuschließen, stets nachzukommen. Was mit dort zugestellter Post geschehe, entziehe sich seiner - des Bewährungshelfers - Kenntnis.
Daraufhin vom Jugendgericht veranlasste polizeiliche Hausermittlungen am 4. und 12. Mai 2020 unter der Anschrift E. Straße xx erbrachten die knappe Mitteilung der Polizei, dass die Angeklagte dort nicht angetroffen worden sei; "Mitbewohner der Wohnung" hätten angeben, dass die Angeklagte "dort noch wohnt, sich jedoch zur Zeit in R. aufhalte". Die "Mitbewohner" wurden nicht namentlich benannt. Auch wurde nicht geklärt, in welchem Verhältnis zu der Angeklagten die Auskunftspersonen stehen, auf welcher Grundlage deren Angaben beruhten und ob die Auskünfte verlässlich waren. Seit wann, zu welchem Zweck und für wie lange sich die Angeklagte in R. aufhalte, wurde ebenfalls nicht erfragt. Dem als Beiakte geführten Bewährungsheft in der Sache 402-25/18 ist zu entnehmen, dass angesichts dessen, dass die Angeklagte Anfang Oktober 2019 zu ihrer Oma nach R. ziehen werde, ihre dortige Unterstellung unter die Aufsicht eines Bewährungshelfers mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft Berlin durch (rechtskräftig gewordenen) Beschluss bereits vom 24. Oktober 2019 aufgehoben worden war. Ausweislich im Bewährungsheft befindlicher Berichte der Jugendgerichtshilfe vom 23. Juli 2018 und des ehemaligen Bewährungshelfers vom 27. Mai 2019 gilt die Unterkunft in der E. Straße als "heruntergekommenes Wohnheim", in dem die Angeklagte gemeinsam mit ihren Eltern sowie zwei älteren Brüdern eine 2-Zimmer-Wohnung bewohnt habe.
Die Ladung der Angeklagten zur Hauptverhandlung erfolgte unter der Anschrift E. Straße xx durch Einlegung des Schriftstückes in einen Briefkasten. Der (zur Hauptverhandlung geladene) ehemalige Bewährungshelfer teilte dem Amtsgericht unter dem 2. Juni 2020 noch mit, dass er seit Oktober 2019 keinen Kontakt zu der Angeklagten mehr gehabt habe. Der für die Angeklagte tätige Verteidiger, der infolge Akteneinsicht seit dem 5. Mai 2020 Kenntnis von dem Hauptverhandlungstermin und seine Ladung am 30. Mai 2020 empfangen hatte, teilte am 10. Juli 2020 - einem Freitag - dem Amtsgericht telefonisch mit, dass die Angeklagte "seit einem Jahr in R." sei und es nicht schaffe, rechtzeitig zu dem Termin am folgenden Montag zu erscheinen. Diese Mitteilung wiederholte er mit Faxschreiben am Morgen des 13. Juli 2020 und beantragte die Aufhebung des Hauptverhandlungstermins, wobei er begründungslos die Einstellung des Verfahrens anregte, andererseits aber auch ankündigte, dass die Angeklagte zu einem etwaigen neuen Termin kommen würde.
Die Angeklagte erschien ebenso wenig zur Hauptverhandlung am 13. Juli 2020, wie der Verteidiger und die beiden gesetzlichen Vertreter der Angeklag...