Entscheidungsstichwort (Thema)
Haftbefehlsaufhebung wegen unzureichender Verfahrensbeschleunigung aufgrund personeller und sächlicher Mangelausstattung der Justiz
Leitsatz (amtlich)
1. Die Bestimmungen des § 121 StPO, die der Beschränkung der Dauer der Untersuchungshaft vor Erlass des erstinstanzlichen Urteils dienen und dem aus der Verfassung abzuleitenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sowie Art. 5 Abs. 3 Satz 1 letzter Teilsatz EMRK Rechnung tragen, begrenzen den Vollzug der Untersuchungshaft wegen derselben Tat vor Erlass des erstinstanzlichen Urteils grundsätzlich auf sechs Monate und gestatten nur in beschränktem Umfang Ausnahmen hiervon. Ein Verfahren, in dem Untersuchungshaft vollzogen wird, ist daher grundsätzlich binnen sechs Monaten mit einem Urteil abzuschließen. Bereits bei Erlass des Haftbefehls ist zu beachten, ob die Frist eingehalten werden kann. Nur ausnahmsweise darf der Vollzug der Untersuchungshaft (wegen derselben Tat) über sechs Monate hinaus aufrechterhalten werden, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulassen und die Fortdauer der Haft rechtfertigen.
2. Nach der Verbindung der beiden Voraussetzungen im Text des Gesetzes muss der vom Gericht der besonderen Haftprüfung festzustellende wichtige Grund zum Zeitpunkt der Prüfung nicht nur dem Erlass des (erstinstanzlichen) Urteils entgegen stehen, sondern (zusätzlich) auch die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen. Der letzte Teilsatz von § 121 Abs. 1 StPO erfordert nach seinem Wortlaut folglich eine doppelte Prüfung: Zum einen müssen Feststellungen darüber getroffen werden, ob die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund ein Urteil noch nicht zulassen. Liegen solche, den Urteilserlass hindernde Umstände vor, führt das (zusätzliche) Erfordernis der Rechtfertigung der Haftfortdauer dazu, dass auf einer zweiten Prüfungsstufe ein Urteil darüber zu treffen ist, ob bei Fortdauer der Haft der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (im engeren Sinne) gewahrt bleibt.
3. Hindert (allein) erhöhter Geschäftsanfall den Urteilserlass binnen sechs Monaten, liegt darin zwar grundsätzlich ein "anderer" wichtiger Grund im Sinne der Vorschrift. Die dadurch eingetretene Überlastung der Strafverfolgungsbehörden oder Gerichte kann die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus aber in der Regel nur dann rechtfertigen, wenn sie nur kurzfristig ist und - insbesondere weil nicht oder kaum voraussehbar - für Strafverfolgungsbehörden, Gerichte und Justizverwaltung unvermeidbar war. Die - namentlich durch Personalmangel verursachte - nicht nur kurzfristige Überlastung des Gerichts oder der Ermittlungsbehörden kann dagegen selbst dann die Fortdauer der Untersuchungshaft nicht rechtfertigen, wenn sie auf einem Geschäftsanfall beruht, der sich trotz Ausschöpfung aller gerichtsorganisatorischen Mittel und Möglichkeiten nicht mehr innerhalb angemessener Fristen bewältigen lässt.
4. Kann in einem Verfahren, in dem Untersuchungshaft vollzogen wird, nur deshalb nicht vor Ablauf der Sechs-Monats-Frist mit der Hauptverhandlung begonnen und dem verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgebot in Haftsachen Rechnung getragen werden, weil der Staat seiner Pflicht zur verfassungsgemäßen Ausstattung der Gerichte nicht nachkommt, haben die mit der Haftprüfung betrauten Fachgerichte die verfassungsrechtlich gebotenen Konsequenzen zu ziehen, indem sie die Haftentscheidung aufheben. Dem Beschuldigten darf nicht zugemutet werden, deshalb eine längere als die verfahrensangemessene Aufrechterhaltung des Haftbefehls in Kauf zu nehmen.
5. Versäumt es der Staat, der seit Jahrzehnten wiederholten Mahnung des Bundesverfassungsgerichts folgend seine Strafverfolgungsbehörden und Gerichte so auszustatten, dass diese dem Gesetzesbefehl folgen und in Verfahren, in denen Untersuchungshaft vollzogen wird, regelmäßig - nämlich dann, wenn kein wichtiger Grund vorliegt, der ein Urteil bei Ablauf der Sechs-Monats-Frist noch nicht zulässt und die Haftfortdauer rechtfertigt - innerhalb von sechs Monaten nach Festnahme des Beschuldigten mit der, den verfassungsrechtlichen Grundsätzen in Bezug auf ihre konzentrierte Durchführung genügenden Hauptverhandlung beginnen können, muss er es hinnehmen - und seinen Bürgerinnen und Bürgern erklären -, dass einer Straftat dringend Verdächtige trotz Vorliegens eines Haftgrundes auf freien Fuß kommen, sich dem Verfahren (und einer Bestrafung) entziehen, die Rechtsfindung durch Verdunkelungshandlungen erschweren oder erneut Straftaten von erheblichem Gewicht begehen.
Normenkette
StPO § 121 Abs. 1
Verfahrensgang
LG Berlin (Entscheidung vom 01.02.2019; Aktenzeichen (513 KLs) 284 Js 2735/18 (40/18)) |
Tenor
Der Haftbefehl des Landgerichts Berlin vom 1. Februar 2019 - (513 KLs) 284 Js 2735/18 (40/18) - wird aufgehoben.
Gründe
A.
I.
Die Staatsanwaltschaft Berlin legt dem Angeklagten, der sich bislang nicht zu den Vorwür...