Entscheidungsstichwort (Thema)
Bußgeldbewehrte Pflicht zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung in öffentlichen Verkehrsmitteln ist verfassungsgemäß
Orientierungssatz
Orientierungssätze:
1. Aus dem Wortlaut des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG folgt, dass der Begriff der "Schutzmaßnahmen" umfassend ist und der Infektionsschutzbehörde ein möglichst breites Spektrum an geeigneten Schutzmaßnahmen eröffnet, welches durch die Notwendigkeit der Maßnahme im Einzelfall begrenzt wird.
2. Staatliche Regelungen, die auch den vermutlich gesünderen und weniger gefährdeten Menschen in gewissem Umfang Freiheitsbeschränkungen abverlangen, sind zulässig, wenn gerade hierdurch auch den stärker gefährdeten Menschen, die sich ansonsten über längere Zeit vollständig aus dem Leben in der Gemeinschaft zurückziehen müssten, ein gewisses Maß an gesellschaftlicher Teilhabe und Freiheit gesichert werden kann (Anschluss an VfGH Bln, Beschluss vom 20. Mai 2020 - VerfGH 81 A/20 -).
3. Bei der gegebenen Gefährdungslage mit erheblichen prognostischen Unsicherheiten, die auch eine katastrophale Überlastung des Gesundheitswesens einbezog, war der Rückgriff auf die infektionsschutzrechtliche Generalklausel, zumindest für eine Übergangszeit, hinzunehmen.
Normenkette
GG Art. 1-2; IfSG § 2 Nr. 3, § 28 Abs. 1, §§ 32, 73 Abs. 1a Nr. 24; SARS-CoV-2 IfSV Bln a.F. (n.a.Abk.) § 4 Abs. 1, § 11 Abs. 3 Nr. 5; OWiG § 80
Verfahrensgang
AG Berlin-Tiergarten (Entscheidung vom 10.06.2021; Aktenzeichen 330 OWi 547/20) |
Tenor
Die Rechtsbeschwerde der Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 10. Juni 2021 wird zugelassen.
Die Rechtsbeschwerde der Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 10. Juni 2021 wird verworfen.
Die Betroffene hat die Kosten ihres Rechtsmittels zu tragen.
Gründe
Das Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf von Berlin hat gegen die Betroffene wegen einer vorsätzlichen Zuwiderhandlung gegen § 4 Abs. 1 SARS-CoV-2 IfSV Bln eine Geldbuße von 150 Euro festgesetzt. Auf ihren Einspruch hat das Amtsgericht Tiergarten die Betroffene wegen des im Bußgeldbescheid bezeichneten vorsätzlichen Verstoßes zu einer Geldbuße von 100 Euro verurteilt. Im Einzelnen hat es festgestellt, dass die Betroffene am 2. Juli 2020 um 20.49 Uhr am S- Bahnhof Westkreuz eine in Richtung Potsdam fahrende S-Bahn betreten hat, ohne eine Mund-Nasen-Bedeckung zu tragen. Auch nachdem die Betroffene durch eine Polizeibeamtin aufgefordert worden war, so die Feststellungen weiter, weigerte sie sich, eine Maske anzulegen. Selbst nach der anschließenden Personalienfeststellung, zu der die Betroffene die S-Bahn verlassen musste, hatte die Betroffene kein Einsehen und bestieg die nächste Bahn wiederum ohne Maske.
Gegen diese Verurteilung wendet sich die Betroffene mit dem Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde. Sie beanstandet die Anwendung des § 4 Abs. 1 SARS-CoV-2 IfSV u.a. deshalb, weil die Vorschrift nicht verfassungsgemäß zustande gekommen und auch materiell unverhältnismäßig, mithin verfassungswidrig sei. Daneben sei die Tat auch nicht, wie es die Vorschrift formuliere, "in geschlossenen Räumen" begangen worden. Schließlich macht die Betroffene geltend, geglaubt zu haben, nach § 4 Abs. 2 Nr. 2 SARS-CoV-2 IfSV aus gesundheitlichen Gründen von der Pflicht zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung befreit gewesen zu sein.
I. Auf den Antrag der Betroffenen ist die Rechtsbeschwerde nach § 80 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 OWiG zur Fortbildung des Rechts zuzulassen. Über die Verfassungsgemäßheit des § 4 Abs. 1 SARS-CoV-2 IfSV Bln und der dazugehörigen Bußgeldvorschrift § 11 Abs. 3 Nr. 5 SARS-CoV-2 IfSV Bln ist, soweit ersichtlich, noch nicht grundsätzlich entschieden worden. Die Erfordernisse der Entscheidungserheblichkeit, Klärungsbedürftigkeit und Abstraktionsfähigkeit dieser Rechtsfrage liegen vor (vgl. BGH NJW 1971, 389; Seitz in Göhler, OWiG 16. Aufl., § 80 Rn. 3 mwN). Die Zulassung der Rechtsbeschwerde setzt nicht voraus, dass das Rechtsmittelgericht in der Fortbildung des Rechts von der Rechtsauffassung des Vorderrichters abweicht (vgl. Senat NStZ 2016, 161; OLG Düsseldorf NZV 2003, 51).
II. Die zugelassene Rechtsbeschwerde bleibt erfolglos.
1. Die Feststellungen tragen die Verurteilung wegen eines vorsätzlichen Verstoßes gegen das Gebot des Tragens einer Mund-Nasen-Bedeckung in öffentlichen Verkehrsmitteln nach §§ 73 Abs. 1a Nr. 24 IfSG, § 4 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. § 11 Abs. 3 Nr. 5 SARS-CoV-2 IfSV Bln in der zur Tatzeit gültigen Fassung vom 23. Juni 2020. Dass es sich auch bei einem S-Bahn-Wagen um einen geschlossenen Raum handelt, ergibt sich zwanglos bereits aus dem Wortlaut des § 4 Abs. 1 SARS-CoV-2 IfSV Bln, erst recht aber aus der Normsystematik. Denn § 4 Abs. 1 Nr. 1 SARS-CoV-2 IfSV Bln unterwirft öffentliche Verkehrsmittel ausdrücklich dem Terminus der "geschlossenen Räume".
2. Im Übrigen hat die Generalstaatsanwaltschaft Berlin in ihrer der Rechtsmittelführerin bekannten Zuschrift Folgendes ausgeführt:
"Die auf die alleine erhobene Sachrüge gebotene Überprüfung des Urt...