Leitsatz (amtlich)

  • 1.

    In sogenannten "Fluchtfällen" kann die Vollstreckung eines Abwesenheitsurteils ohne Zustimmung des Verurteilten übernommen werden, wenn er nach Erkenntnis des Tat-vorwurfes und der Einleitung eines Strafverfahrens in sein Heimatland ausreiste, die Zustellung der Anklageschrift und Ladungen zwar an seinen Verteidiger, nicht aber an ihn bewirkt werden konnten, er aber in der Hauptverhandlung - und gegebenenfalls in der Berufungs- oder Revisionsverhandlung - anwaltlich vertreten war. Das Vorliegen dieser Voraussetzungen ist bei Abwesenheitsurteilen stets zu prüfen.

  • 2.

    Flucht ist in solchen Fällen nicht im Sinne des § 112 Abs. 1 Nr. 1 1. Alt. StPO zu verstehen; vielmehr genügt die schlichte Rückkehr des Verurteilten in sein Heimatland.

  • 3.

    Rechtsgrundlage für die Vollstreckungsübernahme sind die Art. 67-69 SDÜ auch in Verhältnis zu Tschechien, das den sogenannten "Schengen-Besitzstand" voll übernommen hat. Nach dem Inkrafttreten des ZP-ÜberstÜbk (in Tschechien am 1. Februar 2003, in Deutschland am 1. August 2007) ist auch dessen Art. 2 (inhaltsgleich mit Art. 68 und 69 Satz 1 SDÜ) anwendbar.

  • 4.

    Die nach Art. 69 Satz 2 SDÜ sinngemäß - mit Ausnahme von Art. 3 Abs. 1 lit. d) - anzuwendenden Vorschriften des ÜberstÜbk gehen zwar grundsätzlich dem IRG vor, weichen aber inhaltlich nicht maßgeblich von dessen Regelungen (in §§ 48 ff. IRG) ab, auf deren Anwendung für das Exequaturverfahren Art. 11 Abs. 1 Satz 1 ÜberstÜbk verweist.

  • 5.

    Im Exequaturverfahren werden weder die Feststellungen, noch die rechtliche Würdigung oder die Strafzumessung des ausländischen Urteils überprüft. Nach § 54 Abs. 1 Satz 3 Hs. 2 IRG ist jedoch die hier angedrohte Höchststrafe für das Abgeurteilte oder nach dem StGB entsprechende Delikt zu beachten.

 

Verfahrensgang

LG Berlin (Entscheidung vom 21.11.2005; Aktenzeichen 13 VRs IR 25/04 - 541 StVK 393/05)

 

Tenor

Die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluß des Landgerichts Berlin - Strafvollstreckungskammer - vom 21. November 2005 wird verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

 

Gründe

Das Verfahren betrifft das Ersuchen der tschechischen Republik vom 15. März 2004 um Übernahme der Vollstreckung der gegen den Verurteilten wegen mittäterschaftlich begangenen versuchten Kreditbetruges ( §§ 250 b Abs. 1 und 5; 8 Abs. 1, 9 Abs. 2 StGB/Tschechien) verhängten Freiheitsentziehung (Gefängnis mit Aufsicht) von fünf Jahren aus dem seit dem 13. Mai 2003 rechtskräftigen Urteil des Kreisgerichts Hradec Králové - 3 T 58/2000-785 - vom 18. Juni 2002 in Verbindung mit dem Beschluß des Obergerichts in Prag - 12 To 21/03-921 - vom 13. Mai 2003.

I.

1.

Nach den Urteilsfeststellungen boten der Verurteilte und sein Mittäter, die damals als Gesellschafter des Handelsunternehmens "F... C..." (Sitz: British Virgin Islands) auftraten, im Rahmen der Verhandlung am 26. Januar 2000 über ihren Kreditantrag vom 24. Januar 2000 über 12 Millionen DM (= 220.320.000 Tschechische Kronen) der Bank "I... a P... Banka a.S., Filiale Hradec Králové, als Sicherheit ein Gemälde "Frauen am Klavier" an, das angeblich von Pablo Picasso gemalt worden sei. Sie behaupteten wider besseres Wissen, es handele sich um ein Original mit der Signatur von Pablo Picasso, bescheinigt durch drei Stempel der Sammlung Kramar auf der Rückseite, und suchten die Echtheit des Bildes durch Gutachten, unter anderem ein falsches, zu beweisen, das sie sich von Dr. phil. V... P... beschafft hatten. Weil ein beigezogener Berater die Echtheit des Bildes anzweifelte, kam es nicht zur Auszahlung des Kredits.

2.

Die Gerichte beider Instanzen verhandelten in Abwesenheit des Beschwerdeführers S.... Zum Verfahrensgang teilt das Urteil des Kreisgerichts (vom 18. Juni 2002) mit:

"Der Verurteilte S... wurde im Ermittlungsverfahren in Anwesenheit seines Verteidigers und einer Dolmetscherin für die deutsche Sprache mehrfach zu der Beschuldigung vernommen. Aufgrund seines Versprechens (zu ergänzen: sich dem Verfahren zu stellen) wurde er "aus der Festnahme entlassen". Danach kehrte er offenbar nach Deutschland zurück. In der Folgezeit gelang es trotz mehrerer Versuche deutscher Stellen nicht, die ins Deutsche übersetzte Anklage und die Ladung zuzustellen. Deswegen verfuhr das Kreisgericht nach §§ 302 ff. StGB/Tschechien und führte das Verfahren gegen ihn als "Landflüchtigen" in Anwesenheit seines Verteidigers durch ( §§ 302 Abs. 1, 304 StPO Tschechien), dem auch alle Schriftstücke zugestellt wurden ( §§ 303 Abs. 1 Satz 1, 306 Abs. 1 StPO/Tschechien). Da der damalige Angeklagte für das Gericht unerreichbar war und der begründete Verdacht bestand, daß er sich dem Verfahren entzieht und "versteckt". Während der Verlegung der Hauptverhandlung ging bei der Kreisstaatsanwaltschaft am Gerichtsort ein Fax (vermutlich von seiner Ehefrau) ein, in dem er seine Abwesenheit mit Gesundheitsproblemen begründet, ohne jedoch ein "objektives medizinisches Gutachten" zu übersenden, in dem bestätigt worden wäre, er sei zur Teilnahme an der Ve...

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