Verfahrensgang

LG Berlin (Entscheidung vom 19.12.2011)

 

Tenor

Auf die durch Rechtsanwalt S. für den verstorbenen Beschuldigten eingelegte sofortige Beschwerde wird der Beschluß der Rechtspflegerin des Landgerichts Berlin vom 19. Dezember 2011 dahin geändert, daß weitere 464,10 EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 27. Juli 2011 aus der Landeskasse Berlin zu erstatten sind.

Die weitergehende sofortige Beschwerde wird verworfen.

 

Gründe

Das Landgericht hat das gegen den Beschuldigten geführte Sicherungsverfahren (§§ 413 ff StPO) nach dessen Tod durch Beschluß vom 23. Juni 2011 eingestellt und die Verfahrenskosten sowie die notwendigen Auslagen des Beschuldigten der Landeskasse auferlegt. Dem durch den Verteidiger gestellten Antrag vom 27. Juli 2011, die notwendigen Auslagen des Beschuldigten auf insgesamt 2.552,07 EUR nebst Zinsen festzusetzen, hat die Rechtspflegerin durch Beschluß vom 19. Dezember 2011 nur in Höhe von 829,85 EUR entsprochen. Der gegen die Absetzung gerichteten sofortigen Beschwerde kann ein Teilerfolg nicht versagt werden.

1. Das Rechtsmittel ist zulässig. Der frühere Verteidiger ist für den verstorbenen Beschuldigten beschwerdebefugt. Denn die ihm von dem Betreuer des Beschuldigten zu dessen Lebzeiten am 9. November 2010 ausdrücklich auch für das Kostenfestsetzungsverfahren erteilte Vollmacht wirkt gemäß den §§ 168, 672, 675 BGB über den Tod des Beschuldigten hinaus (vgl. OLG Rostock, Beschluß vom 9. Oktober 2002 - 1 Ws 441/02 mwN - bei juris; Palandt/Ellenberger, BGB 71. Aufl., Rdn. 4 zu § 168) und ermächtigt den Verteidiger in rechtsgeschäftlicher Vertretung der Erben (vgl. OLG Hamburg NJW 1971, 2183; Palandt/Weidlich, BGB 71. Aufl., Rdn. 33 zu § 1922) jedenfalls noch zur Anbringung von Kostenanträgen und damit im Zusammenhang stehenden Rechtsmitteln (vgl. Senat, Beschluß vom 11. Januar 2008 - 1 Ws 286/07; aA OLG München NJW 2003, 1133). Durch die Niederlegung des Wahlmandats im Zuge seiner Bestellung zum Pflichtverteidiger am 30. März 2011 ist die Vertretungsvollmacht des Rechtsanwalts nicht erloschen. Denn die Beendigung des Wahlmandats betrifft in der Regel nur das Strafverfahren und läßt die Bevollmächtigung für das Kostenfestsetzungsverfahren unberührt (vgl. OLG Hamm, Beschluß vom 12. April 2007 - 3 Ws 209/07 - bei juris; Meyer-Goßner, StPO 54. Aufl., Rdn. 2 zu § 464b).

2. Das Rechtsmittel ist nur teilweise begründet.

a) Zu Recht hat die Rechtspflegerin die Vergütung nach den Nrn. 4101 und 4105 VV RVG sowie die Telekommunikationspauschale (Nr. 7002 VV RVG) für die Tätigkeit des Verteidigers in dem Verfahren, dem der polizeiliche Sammelvorgang 101126-1225-033341 zugrunde lag, insgesamt nur einmal und nicht, wie von Rechtsanwalt S. beantragt, für jeden der unter den Nummern 100912-1251-022190, 100912-1250-022190, 100912-1300-022190 und 100917-1050-027958 geführten polizeilichen Vorgänge festgesetzt. Denn es handelte sich um dieselbe Angelegenheit im Sinne des § 15 Abs. 2 Satz 1 RVG, bei der die Gebühren und die Pauschale nach Nr. 7002 VV RVG nur einmal entstehen.

Für die Beurteilung, ob bei mehreren Tatvorwürfen dieselbe Angelegenheit und ein einziger "Rechtsfall" im Sinne der Nr. 4100 VV RVG gegeben sind, ist maßgebend, wie die Strafverfolgungsbehörden die Sache behandeln. Wird gegen den Beschuldigten in getrennten Verfahren ermittelt, ist jedes für sich eine eigene Angelegenheit. Hingegen handelt es sich gebührenrechtlich um nur eine Rechtssache, wenn die Ermittlungen wegen mehrerer Straftaten in einem Verfahren betrieben werden (vgl. Burhoff in Gerold/Schmidt, RVG 19. Aufl., Rdn. 12 zu Nr. 4100 VV; Hartmann, KostG 41. Aufl., Rdn. 8 zu Nr. 4100 VV RVG). Das stellt der Verteidiger nicht in Abrede. Seine Auffassung, daß die Ermittlungen hier zunächst in verschiedenen Verfahren geführt worden seien, trifft nicht zu.

Gegenstand der Ermittlungen war von Anfang an ein einheitlicher Lebenssachverhalt. Dem Beschuldigten wurde zur Last gelegt, am 12. September 2010 innerhalb weniger Minuten im Zustand verminderter oder aufgehobener Schuldfähigkeit wahllos drei Straßenpassanten angegriffen und verletzt sowie gegen seine anschließende Festnahme durch die herbeigerufenen Polizeibeamten Widerstand geleistet zu haben. Dementsprechend wurden bei der Polizeibehörde zwar für die einzelnen Straftaten und Geschädigten jeweils gesonderte Strafanzeigen mit getrennten Vorgangsnummern gefertigt, die Ermittlungen aber zusammengefaßt durch einen Sachbearbeiter geführt, der für alle in Betracht kommenden Delikte einen gemeinsamen Abschlußbericht fertigte und die Sache als Sammelvorgang unter dem Geschäftszeichen 101126-1225-033341 mit einer Auflistung der als Untervorgänge bezeichneten Strafanzeigen an die Staatsanwaltschaft abgab. Der Behandlung der Sache als eine Angelegenheit steht nicht entgegen, daß der Beschuldigte zur polizeilichen Vernehmung am 9. November 2010 unter jeder Vorgangsnummer durch gesonderte Schreiben mit Angaben zu dem jeweiligen Tatvorwurf geladen wor...

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