Leitsatz (amtlich)
Ein Haftbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO mit dem damit verbundenen Eingriff in die persönliche Freiheit darf nur dann ergehen, wenn und soweit der Anspruch der staatlichen Gemeinschaft auf vollständige Aufklärung der Tat und rasche Bestrafung des Täters anders nicht gesichert werden kann. Zwischen den in § 230 Abs. 2 StPO vorgesehenen Zwangsmitteln besteht ein Stufenverhältnis, d.h. grundsätzlich ist zunächst zwingend das mildere Mittel - nämlich die polizeiliche Vorführung - anzuordnen.
Verfahrensgang
LG Berlin (Entscheidung vom 20.06.2016; Aktenzeichen (506) 254 Js 233/16 KLs (4/16 Trb 1)) |
Tenor
Auf die Beschwerde des Angeklagten wird der Haftbefehl des Landgerichts Berlin vom 20. Juni 2016 aufgehoben.
Die Landeskasse Berlin hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Angeklagten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Gründe
Mit der zugelassenen Anklage der Staatsanwaltschaft Berlin vom 29. Februar 2016 wird dem Angeklagten vorgeworfen, sich der versuchten Strafvereitelung zugunsten der Mitangeklagten G schuldig gemacht zu haben, die ihrerseits des bandenmäßigen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge beschuldigt ist. Dem Angeklagten wird zur Last gelegt, er habe am 25. September 2015 anlässlich einer Durchsuchungsmaßnahme im Kiosk der G in B. der Wahrheit zuwider angegeben, das dort aufgefundene, in Konsumeinheiten portionierte und zum Verkauf vorgesehene Marihuana mit einem Wirkstoffgehalt von 9,652 Gramm THC habe ihm und nicht der G gehört, um diese vor Bestrafung zu bewahren. Eine solche Erklärung habe er am 14. Oktober 2015 schriftlich wiederholt.
Die Hauptverhandlung ist seit dem 27. April 2016 zunächst gegen insgesamt sechs Angeklagte durchgeführt worden. Sie war ursprünglich auf 15 Tage bis zum 29. Juni 2016 terminiert, bevor am 23. Mai 2016 weitere Fortsetzungstermine auf den 4., 25. und 27. Juli 2016 bestimmt wurden.
Der Angeklagte erschien an den ersten sechs Verhandlungstagen beanstandungsfrei, bevor er sich am 7. Tag, dem 1. Juni 2016, um 20 Minuten verspätete. An diesem Tag verhängte das Landgericht auf Antrag der Staatsanwaltschaft gegen ihn ein Ordnungsgeld in Höhe von 200 Euro, ersatzweise vier Tage Ordnungshaft, weil er "unentschuldigt verspätet erschienen" war, ohne dass aus dem Hauptverhandlungsprotokoll ersichtlich ist, dass dem Beschwerdeführer in Bezug auf die beabsichtige Verhängung des Zwangsmittels rechtliches Gehör gewährt worden ist, und ob er zum Grund der Verspätung etwas vorgebracht hat. Eine nähere Begründung oder die Bezugnahme auf eine gesetzliche Grundlage enthält der - nicht angefochtene - Beschluss nicht.
Der für den 6. Juni 2016 vorgesehene Hauptverhandlungstag fand nicht statt, wobei der Senat dem ihm zugeleiteten Aktenauszug den Grund hierfür nicht entnehmen kann. Am nächsten Hauptverhandlungstag, dem 8. Juni 2016, erschien der Beschwerdeführer zu der um 9.39 Uhr begonnenen Hauptverhandlung erneut verspätet, erst um 9.50 Uhr, was ohne erkennbare gerichtliche Reaktion blieb.
Nachdem auch die für den 13. und 15. Juni 2016 vorgesehenen Verhandlungstage aus dem Senat unbekannten Gründen nicht durchgeführt worden waren, blieb der Beschwerdeführer am 9. Verhandlungstag, dem 20. Juni 2016, aus. Das Landgericht stellte fest, dass eine Entschuldigung für das Ausbleiben nicht vorliege, worauf der Vertreter der Staatsanwaltschaft beantragte, gegen den Angeklagten Ordnungshaft zu verhängen. Die Strafkammer beschloss nach einer kurzen Unterbrechung hingegen, das Verfahren gegen den Beschwerdeführer abzutrennen und gegen diesen einen Haftbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO zu erlassen, weil er "wiederholt (...) unentschuldigt verspätet bzw. nicht erschienen" sei. In dem Sitzungshaftbefehl selbst ist zur Begründung der Haftanordnung lediglich ausgeführt, dass der Beschwerdeführer zur Hauptverhandlung am 20. Juni 2016 unentschuldigt nicht erschienen sei.
Der Senat vermag dem Aktenauszug nicht zu entnehmen, ob - was mit Blick auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip bei Fehlen einer neuen Hauptverhandlungsplanung nicht ganz unproblematisch wäre (vgl. OLG Köln, Beschluss vom 11. Juni 2012 - 2 Ws 428/12 - [juris-Rz. 29]) - der Beschwerdeführer aufgrund des Haftbefehls bereits zur Festnahme ausgeschrieben ist.
Der Angeklagte erhob unter dem 23. Juni 2016 gegen den Haftbefehl "sofortige" Beschwerde. Er beanstandete die Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und des Übermaßverbotes; zudem brachte er vor, gar nicht unentschuldigt ausgeblieben, sondern vielmehr mehrere Tage verhandlungsunfähig erkrankt gewesen zu sein, was einem beigefügten ärztlichen Attestes vom 22. Juni 2016 zu entnehmen sei. Wegen der Einzelheiten verweist der Senat auf den Beschwerdeschriftsatz und das beigefügte Attest.
Das Landgericht hat dem Rechtsmittel nach einer Kammerberatung in nicht bekannter Besetzung nicht abgeholfen. Zur Begründung hat es mit Verfügung des stellvertretenden Kammervorsitzenden vom 30. Juni 2016 ausgeführt, dass das eingereichte Att...