Leitsatz (amtlich)
1. Es gibt keinen Grundsatz, dass die Wiederkennung des Täters einer Straftat, von der eine Videoaufzeichnung vorliegt, ausschließlich durch das Tatopfer, nicht jedoch durch andere Personen, die den Täter gut kennen, möglich ist. Der Tatrichter muss sich daher auch mit der Identifizierung durch andere Personen auseinandersetzen. Eine solche ist zur Überführung des Täters grundsätzlich geeignet. Die Beurteilung des Werts der Wiedererkennung durch den Zeugen unterliegt der freien richterlichen Beweiswürdigung.
2. Nach § 202 Satz 1 StPO sind einzelne Beweiserhebungen zur besseren Aufklärung der Sache vor der Eröffnungsentscheidung möglich. Der Umstand, dass einer einzelnen Beweiserhebung „entscheidende Bedeutung“ zukommt, steht deren Anordnung nicht entgegen, sondern gebietet sie geradezu.
Verfahrensgang
LG Berlin (Entscheidung vom 06.07.2020; Aktenzeichen (505 KLs) 265 Js 1067/19 (36/19) Trb1) |
Tenor
1. Auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Berlin wird der Beschluss des Landgerichts Berlin - Jugendkammer - vom 6. Juli 2020 aufgehoben.
2. Die Anklage der Staatsanwaltschaft Berlin vom 12. August 2019 wird unter Eröffnung des Hauptverfahrens vor der Strafkammer 5 - große Jugendkammer - des Landgerichts Berlin zur Hauptverhandlung zugelassen.
3. Die Bestimmung der berufsrichterlichen Besetzung in der Hauptverhandlung (§ 76 Abs. 2 GVG) bleibt der Jugendkammer vorbehalten.
4. Eine Kosten- und Auslagenentscheidung ist nicht veranlasst.
Gründe
I.
1. Mit ihrer zum Landgericht Berlin - Jugendkammer - erhobenen Anklageschrift vom 12. August 2019 legt bzw. legte die Staatsanwaltschaft Berlin dem heranwachsenden Angeklagten und dem erwachsenen, inzwischen gesondert Verurteilten S die Begehung eines versuchten und eines vollendeten besonders schweren Raubes (§§ 249, 250 Abs. 2 Nr. 1, 22, 23, 25 Abs. 2, 53 StGB, §§ 1, 105 JGG) zur Last. Sie sollen am 19. März 2019 gegen 5:35 Uhr - maskiert mit Schals und Mützen - den Verkaufsraum des "O"-Kiosk auf dem U-Bahnhof H. betreten haben, um dieses Geschäft zu überfallen. Einer der beiden Mittäter habe der Verkäuferin R ein Messer mit einer ca. 7 cm langen Klinge entgegen gehalten, während beide Mittäter die Verkäuferin R aufgefordert hätten, die Ladenkasse zu öffnen, um hieraus Bargeld zu entnehmen. Da einer der Täter bemerkt habe, dass die Zeugin R den sichtbaren Alarmknopf betätigt hatte, hätten beide aus Furcht vor der alarmierten Polizei die weitere Tatausführung abgebrochen. Gegen 7:40 Uhr desselben Tages sollen der Angeklagte, der inzwischen gesondert Verurteilte S sowie ein unbekannter Mittäter das Geschäft "J" in der S-Straße betreten haben, um dieses ebenfalls zu überfallen. Der Angeklagte habe der Geschädigten J ein ca. 10 - 15 cm langes Messer entgegengehalten und sie aufgefordert, die Ladenkasse zu öffnen. Unter weiterer Bedrohung der Geschädigten hätten der Angeklagte und der unbekannte Mittäter aus dem Kassenschub 549,- Euro entnommen und diese zusammen mit diversen Zigarettenschachteln aus dem Warenbestand in einer mitgebrachten Tasche verstaut, während der gesondert Verurteilte S aus dem Lager weitere Stangen Zigarillos und Bargeld an sich genommen habe. Die Mittäter seien dann vom Tatort geflüchtet, um die Beute für sich zu verwenden. Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt der Anklageschrift vom 12. August 2019 Bezug genommen.
2. Die staatsanwaltlichen Ermittlungen haben im Wesentlichen Folgendes ergeben:
Der Angeklagte und der ehemals Mitangeklagte S haben im Ermittlungsverfahren keine Angaben gemacht.
Der ehemals Mitangeklagte S hinterließ bei Begehung der Tat zu 2. zum Nachteil der Geschädigten J einen Fingerabdruck, aufgrund dessen er als Täter dieser Tat identifiziert wurde. Der enge räumliche und zeitliche Zusammenhang der Taten sowie die Täterbeschreibungen sprechen dafür, dass die Taten von denselben Tätern begangen wurden. Zudem erkannte die Geschädigte J nach Betrachtung der Videoaufnahmen der Überwachungskamera der Tat zu 1. zum Nachteil der Zeugin R aufgrund der getragenen Kleidung und Maskierung den gesondert Verurteilten S als einen der Täter der Tat zu ihrem Nachteil wieder. Bei der Auswertung der Videoaufnahmen der Tat zu 1. identifizierte der Zeuge KHK K, der sowohl den Angeklagten als auch den S seit Jahren im Intensiv- bzw. Schwellentäterprogramm betreut, den Angeklagten und den ehemals Mitangeklagten S aufgrund der Körperhaltung, Statur, Nasenform u.a. als Täter der Tat zu 1. Bei der daraufhin angeordneten Durchsuchung der Habe des in anderer Sache inhaftierten Angeklagten wurde ein Basecap "Air Jordan" mit auffällig hellem Logo auf dem Mützenschirm sowie einem auf der linken Stirnseite angebrachten Firmenlogo beschlagnahmt, das derjenigen Mütze gleicht, die der Mittäter des S bei Begehung der Tat zu 1. getragen hatte. Der Angeklagte und S sind seit Jahren befreundet und haben bereits in der Vergangenheit gemeinsam Straftaten begangen.
3. Die Jugendkammer hat das Verfahren gegen S am 23. Oktober 2019 abgetrennt und vor ...