Entscheidungsstichwort (Thema)
Bereicherungsrechtliche Rückabwicklung eines Altvertrages über eine Lebensversicherung im sog. Policenmodell
Leitsatz (amtlich)
1. Ist eine Widerspruchsbelehrung fehlerhaft im Sinne des § 5a Abs. 2 S. 1, Abs. 1 S. 1 VVG a.F., weil sie die Ausübung des Widerspruchs von einer "schriftlichen" Erklärung abhängig macht, während die geltende Fassung der Vorschrift die Textform ausreichen lässt, so ist bei der Würdigung, ob ein Ausnahmefall vorliegt, in welchem dem Versicherungsnehmer die Geltendmachung seines bereicherungsrechtlichen Rückabwicklungsanspruchs verwehrt sein kann, weil besonders gravierende Umstände vorliegen, aufgrund derer in der Geltendmachung dieses Anspruchs eine widersprüchliche und damit unzulässige Rechtsausübung liegt (vergl. BGH, Hinweisbeschluss vom 11.11.2015 - IV ZR 117/15 Rn. 16), auch die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft zu berücksichtigen (insbesondere EuGH, Urteil vom 19. Dezember 2019 - C-355/18 bis C-357/18 u.a. VersR 2020, 341, juris Rn. 78 ff.).
2. Denn auch die maßgeblichen europarechtlichen Vorgaben in Fällen einer fehlerhaften Belehrung erfordern nicht stets ein zeitlich unbegrenztes Widerspruchsrecht des Versicherungsnehmers, sondern es ist stets dem nationalen Rechtsrahmen und den Umständen des Einzelfalls Rechnung zu tragen (vergl. auch OLG Hamm, Beschluss vom 05. August 2020 - 20 U 68/20 -, Rn. 19, juris)
3. Danach ist zu prüfen, ob dem Versicherungsnehmer durch die Informationen nicht die Möglichkeit genommen wird, sein Rücktrittsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei Mitteilung zutreffender Informationen auszuüben (EuGH, Urteil vom 19. Dezember 2019 - C-355/18 bis C-357/18 und C-479/18 -, juris).
4. Im Einzelfall kann die Prüfung ergeben, dass das Verhalten des Versicherungsnehmers einen Schluss darauf zulässt, dass er auch bei Kenntnis des Widerspruchsrechts - hier: der tatsächlich geringfügigeren Formanforderungen - an dem Versicherungsvertrag festgehalten und von dem ihm zustehenden Widerspruchsrecht keinen Gebrauch gemacht hätte.
5. Wenn angenommen werden kann, dass sich der Versicherungsnehmer durch den mit Einhaltung der Schriftform des § 126 BGB einhergehenden geringen Mehraufwand, von der Wahrnehmung des Widerspruchsrechts nicht hätte abhalten lassen, kann der dennoch nach jahrelanger Vertragsdurchführung erklärte Widerspruch im Einzelfall als rechtsmissbräuchlich erscheinen.
Normenkette
BGB §§ 126, 126b, 242, 812; VVG § 5a Fassung: 2001-07-13; ZPO § 522 Abs. 2
Verfahrensgang
LG Berlin (Urteil vom 04.12.2020; Aktenzeichen 4 O 185/20) |
Tenor
1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Landgerichts Berlin vom 04.12.2020, Aktenzeichen 4 O 185/20, wird zurückgewiesen.
2. Die Klägerin hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
3. Das in Ziffer 1 genannte Urteil des Landgerichts Berlin ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
4. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf bis zu 8.000,00 EUR festgesetzt.
Gründe
I. Hinsichtlich der Darstellung des Sach- und Streitstandes wird zunächst auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils des Landgerichts Berlin vom 13.01.2021 Bezug genommen. Die Klägerin begehrt in der Berufung weiterhin die Rückabwicklung nach § 812 ff BGB des mit der Beklagten im Policenmodell gem. § 5a VVG in der Fassung vom 13.07.2001 (im Folgenden: § 5a VVG a.F.) geschlossenen Vertrages über eine fondsgebundene Lebensversicherung zu der Versicherungsscheinnummer FN0000000. Mit aus einer einzelnen Din-A-4-Seite mit wenigen Absätzen bestehendem Zuleitungsschreiben vom 29.11.2004 (Anlage K1) übersandte die Beklagte den Versicherungsschein und belehrte die Klägerin in einem durch Fettdruck hervorgehobenen Absatz mit folgendem Wortlaut über das ihr nach § 5a VVG a.F. zustehende Widerspruchsrecht:
Der Vertrag gilt auf der Grundlage der beigefügten Unterlagen - Versicherungsschein, Versicherungsbedingungen und Verbraucherinformationen - als abgeschlossen, wenn Sie nicht innerhalb von 14 Tagen ab Erhalt dieser Unterlagen uns gegenüber schriftlich widersprechen. Um diese Frist zu wahren, genügt es, den Widerspruch innerhalb dieser Frist an uns abzusenden.
Unter dem 1.12.2004 unterzeichnete die Klägerin ein Empfangsbekenntnis, in welchem sie den Empfang des Versicherungsscheines, der zugehörigen Verbraucherinformation und der Versicherungsbedingungen bestätigte (Anlage B1). Nach Kündigung der Versicherung im Juli 2019 durch die Klägerin zahlte die Beklagte aufgrund Abrechnung einen Betrag von 30.619,96 EUR aus. Unter dem 16.04.2020 erklärte die Klägerin sodann den Widerspruch gegen den Abschluss des Versicherungsvertrages und begehrt mit der Klage die Auszahlung weiterer 7.702,53 EUR, nämlich neben den zurückverlangten Beiträgen auch die hieraus gezogenen Nutzungen, welche die Klägerin auf der Grundlage der Nettokapitalrendite berechnet. Das Landgericht hat die Klageabweisung vornehmlich mit dem Ablauf der Jahresfrist ab Zahlung der ersten Prämie gemäß § 5 Abs. 2 S. 4 ...