Leitsatz (amtlich)
1. Zwischen den in § 230 Abs. 2 StPO vorgesehenen Zwangsmitteln besteht ein Stufenverhältnis, d.h. grundsätzlich ist zunächst zwingend das mildere Mittel – nämlich die polizeiliche Vorführung – anzuordnen. Eine Verhaftung des Angeklagten ist mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht zu vereinbaren, wenn bei verständiger Würdigung aller Umstände die Erwartung gerechtfertigt ist, dass der Angeklagte zu dem (nächsten) Hauptverhandlungstermin erfolgreich vorgeführt werden kann.
2. Wenn das Gericht sofort zum Mittel des Haftbefehls greift, muss aus seiner Entscheidung deutlich werden, dass es eine Abwägung zwischen der polizeilichen Vorführung und dem Haftbefehl vorgenommen hat. Die Gründe, warum ausnahmsweise sofort die Verhaftung des Angeklagten angeordnet worden ist, müssen tragfähig sein und in dem Beschluss in einer Weise schlüssig und nachvollziehbar aufgeführt werden, dass sie in Inhalt und Umfang eine Überprüfung des Abwägungsergebnisses am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht nur für den Betroffenen selbst, sondern auch für das die Anordnung treffende Gericht im Rahmen seiner Eigenkontrolle gewährleisten. Von entsprechenden Darlegungen kann nur abgesehen werden, wenn die Nachrangigkeit des Freiheitsanspruchs offen zutage liegt und sich daher von selbst versteht.
Verfahrensgang
AG Berlin-Tiergarten (Entscheidung vom 12.06.2019) |
LG Berlin (Entscheidung vom 27.06.2019) |
Tenor
Auf die weitere Beschwerde des Angeklagten werden der Beschluss des Landgerichts Berlin vom 27. Juni 2019 und der Haftbefehl des Amtsgerichts Tiergarten vom 12. Juni 2019 aufgehoben.
Die Landeskasse Berlin hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Angeklagten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Gründe
Dem Angeklagten wird vorgeworfen, sich des Betruges in zwei Fällen schuldig gemacht zu haben. Er soll am 22. Juli 2018 in einer Gaststätte Getränke im Gesamtwert von 31,50 Euro konsumiert sowie am 14. Oktober 2018 in erheblich alkoholisiertem Zustand eine Taxifahrt im Wert von 80,10 Euro in Anspruch genommen und jeweils wahrheitswidrig vorgegeben haben, zur Bezahlung willens und in der Lage zu sein (wobei der Angeklagte nach den Feststellungen der Polizeibeamten am 14. Oktober 2018 genügend Bargeld dabei hatte, um die Taxifahrt zu bezahlen, dies aber nicht tun wollte).
Die Hauptverhandlung war auf den 12. Juni 2019 anberaumt. Der Angeklagte erschien zu ihr nicht, worauf das Amtsgericht einen Haftbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO mit der (abschließenden) Begründung erließ, dass der Angeklagte nach einer Mitteilung des Verteidigers diesem eine Nachricht mit dem Inhalt hinterlassen habe, er "schaffe es nicht" (gemeint ist offenbar: zum Termin zu erscheinen). Die Verhältnismäßigkeit des Sitzungshaftbefehls folge daraus, dass der Angeklagte einschlägig vorbestraft sei und in zwei Fällen wegen einschlägiger Taten unter Bewährung stehe. Hiernach drohten ihm "im Falle einer Verurteilung (...) bei Widerruf die Vollstreckung von Haftstrafen (...), die insgesamt zwei Jahre übersteigen".
Mit Beschluss vom 27. Juni 2019 verwarf das Landgericht Berlin die hiergegen erhobene Beschwerde des Angeklagten vom 14. Juni 2019, die der Verteidiger unter Bezugnahme auf einen Behandlungsbericht des Krankenhauses H vom 11. Juni 2019 darauf gestützt hatte, dass der Angeklagte am Tag der versäumten Hauptverhandlung nicht verhandlungsfähig gewesen sei; seit der durch den Bericht belegten Notaufnahme leide der Angeklagte an starken Kopfschmerzen und Schwindel. Der Behandlungsbericht weist aus, dass bei dem Angeklagten nach dessen Einbringung durch einen Rettungswagen in die Notaufnahme am 11. Juni 2019 um 8.27 Uhr eine Kopfplatzwunde diagnostiziert und diese mit einer Hautnaht versorgt wurde. Das Landgericht führte zur Frage der genügenden Entschuldigung aus, dass durch den Behandlungsbericht die vorgebrachten "Kopfschmerzen, Schwindel und Verhandlungsunfähigkeit (...) gerade nicht bestätigt" würden, sodass anzunehmen sei, dass dem Angeklagten das Erscheinen in der Hauptverhandlung am Folgetag zumutbar gewesen sei. Der Haftbefehl sei auch verhältnismäßig, weil insbesondere nicht ersichtlich sei, dass bereits der Erlass eines Vorführungsbefehls die Hauptverhandlung in Gegenwart des Angeklagten mit der erforderlichen Sicherheit gewährleiste. Hierbei sei insbesondere zu berücksichtigen, dass der Angeklagte im Falle einer Verurteilung in hiesiger Sache mit dem Widerruf seiner "Bewährungsstrafen" rechnen müsse und "daher die gesteigerte Gefahr besteht, dass er sich dem hiesigen Verfahren entzieht". Auch das Verhalten des Angeklagten am Verhandlungstag, an dem er "nur zu seinem Verteidiger Kontakt aufnahm und sein Fernbleiben auch diesem gegenüber offenbar nicht näher begründete", weise "darauf hin, dass er sich dem Verfahren generell und damit auch zukünftig entziehen möchte". In dem chronischen Alkoholmissbrauch sowie einer psychischen Störung des "außerhalb Berlins wohnenden" Angeklagten seien weitere Umstände zu erblicken, ...