Leitsatz (amtlich)
Die Verurteilung wegen einer zur Nachtzeit begangenen Geschwindigkeitsüberschreitung hat keinen Bestand, wenn die Geschwindigkeit durch Nachfahren mit ungeeichtem Tacho ermittelt wurde und das Urteil den Verfolgungsabstand mit 300 Meter mitteilt, aber keine Feststellungen zur Straßenbeleuchtung und zu den Verkehrsverhältnissen enthält.
Verfahrensgang
AG Berlin-Tiergarten (Entscheidung vom 27.06.2017; Aktenzeichen 290 OWi 461/17) |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 27. Juni 2017 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde - an das Amtsgericht Tiergarten zurückverwiesen.
Gründe
Das Amtsgericht Tiergarten hat die Betroffene wegen einer innerorts vorsätzlich begangenen Geschwindigkeitsüberschreitung zu einer Geldbuße von 280 Euro verurteilt und ein zweimonatiges Fahrverbot gegen sie angeordnet. Nach den Feststellungen befuhr die Betroffene in der Nacht zum 9. Oktober 2016 mit einer Geschwindigkeit von zumindest 104 km/h den S.D. in Richtung Osten und überschritt damit die innerörtlich zulässige Geschwindigkeit um 54 km/h. Der Bußgeldrichter war von diesem Tatgeschehen überzeugt, weil zwei Polizeibeamten bekundet hatten, die Betroffene, die ihnen bereits zuvor durch unangepasstes Fahren aufgefallen gewesen sei, über eine Wegstrecke von etwa 1,1 Kilometern bei gleichbleibendem Abstand von etwa 300 Metern mit einer vom Tachometer abgelesenen Geschwindigkeit von 130 km/h verfolgt zu haben. Die Betroffene wendet sich gegen das Urteil mit der Rechtsbeschwerde. Das Rechtsmittel hat mit der allgemeinen Sachrüge Erfolg. Es beanstandet zu Recht die Verurteilung wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung um 54 km/h. Das Urteil fußt insoweit auf fehlerhafter Würdigung der Beweise.
1. Zwar ist die Beweiswürdigung Sache des Tatrichters, dessen Überzeugungsbildung das Rechtsbeschwerdegericht nur darauf prüft, ob sie auf rechtsfehlerhaften Erwägungen beruht. Dies ist namentlich der Fall, wenn sie mit gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen oder unbezweifelbarem Erfahrungswissen unvereinbar ist, Widersprüche oder sonstige Verstöße gegen die Gesetze der Logik enthält oder Lücken aufweist, sich insbesondere nicht mit nahe liegenden alternativen Geschehensabläufen befasst, obwohl sich dies nach dem Beweisergebnis aufdrängt (vgl. BGH NJW 2007, 384). Für die Geschwindigkeitsmessung durch Nachfahren ist anerkannt, dass sie als Beweis für eine Geschwindigkeitsüberschreitung auch dann ausreichen kann, wenn der Tachometer des nachfahrenden Fahrzeugs ungeeicht und nicht justiert war. Insoweit hat die Rechtsprechung Richtlinien für die beweissichere Feststellung einer durch Nachfahren ermittelten Geschwindigkeitsüberschreitung entwickelt. Danach müssen die Messstrecke ausreichend lang und der Abstand des nachfolgenden Fahrzeugs gleichbleibend und möglichst kurz sein; zugleich muss die Geschwindigkeitsüberschreitung wesentlich sein (vgl. Zusammenstellung und Nachweise bei Burhoff, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche Owi-Verfahren, 3. Aufl., Rn. 1369, 1540). Bei in Dunkelheit oder schlechten Sichtverhältnissen durchgeführter Messung sind zusätzlich Angaben über die Beobachtungsmöglichkeiten der Polizeibeamten erforderlich (BayObLG DAR 2000, 320; OLG Hamm DAR 2002, 176). Für die hier festgestellten Rahmenbedingungen gilt im Einzelnen: Bei Geschwindigkeiten von 100 km/h und mehr sollen die Urteilsfeststellungen belegen, dass die Messstrecke nicht kürzer als 500 Meter war (vgl. Senat DAR 2015, 99 und Beschluss vom 22. Oktober 2001 - 3 Ws (B) 516/01 - [juris]; OLG Bamberg DAR 2006, 517; OLG Braunschweig DAR 1989, 110). Bei Geschwindigkeiten über 90 km/h soll der Verfolgungsabstand nicht mehr als 100 Meter betragen (vgl. BayObLG DAR 1996, 288; OLG Düsseldorf NZV 1990, 318; Thüringisches OLG aaO.).
2. Diesen Anforderungen wird die Beweiswürdigung des angefochtenen Urteils nicht gerecht. Zwar hat das Amtsgericht die anzuwendenden Grundsätze im Urteil kundig rekapituliert (UA S. 5), und es ist auch nachvollziehbar davon ausgegangen, dass es sich bei den Zahlen nur um "Richtwerte" handelt, so dass geringe Abweichungen "im Einzelfall oft unvermeidbar und auch unschädlich" sind (UA S. 5). Trotz des hohen Toleranzabzugs - das Amtsgericht hat vom abgelesenen Tachometerwert
(130 km/h) 20 Prozent abgezogen - kann der Senat jedoch nicht nachvollziehen, dass bei dem hier mitgeteilten Verfolgungsabstand von etwa 300 Metern die tatsächlich gefahrene Geschwindigkeit mit 104 km/h zuverlässig ermittelt worden ist. Bei einem so großen Abstand könnte bei der hier zur Nachtzeit erfolgten Messung - je nach Beleuchtungsverhältnissen und Verkehrssituation, die im Urteil unerörtert bleiben - sogar in Frage stehen, dass es sich bei dem während des Messvorgangs avisierten Fahrzeug stets um dasjenige der Betroffenen handelte. Jedenfalls kann der Senat nicht nachvollziehen, dass bei einem Verfolgungsabs...