Entscheidungsstichwort (Thema)
Strafaussetzung zur Bewährung: Bewährungswiderruf und Vertrauensschutz
Leitsatz (redaktionell)
Auch wenn ein Widerrufsgrund zeitlich vor der Verlängerungsentscheidung des Gerichts entstanden ist, steht er dem Widerruf nicht entgegen. Dies gilt insbesondere dann, wenn sich das Gericht den Widerruf der Bewährung wegen der bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht rechtskräftigen Verurteilung durch ein anderes Gericht ausdrücklich vorbehalten hat, da Gegenstand der Prüfung, ob die Strafaussetzung widerrufen werden darf und ob der Widerruf unumgänglich ist, das gesamte Verhalten des Verurteilten in der Bewährungszeit bildet, und dabei auch solche Umstände herangezogen werden können, die vor deren Verlängerung liegen oder deren Anlass waren.
Verfahrensgang
LG Berlin (Beschluss vom 16.08.2001; Aktenzeichen 546 StVK 666/01) |
Gründe
Das Amtsgericht Tiergarten in Berlin hat den Beschwerdeführer am 12. September 1996, rechtskräftig seit dem 20. September 1996, wegen Diebstahls in vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Monaten verurteilt und deren Vollstreckung für die Dauer von drei Jahren zur Bewährung ausgesetzt. Innerhalb der Bewährungszeit ist der Beschwerdeführer erneut straffällig geworden. Im Dezember 1997 und im Januar 1999 fuhr er insgesamt dreimal in Berlin mit der U-Bahn, ohne einen Fahrschein gelöst zu haben. Deswegen verurteilte ihn das Amtsgericht Tiergarten am 3. Februar 2000 wegen Erschleichens von Leistungen in drei Fällen zu einer Gesamtgeldstrafe von 60 Tagessätzen zu je 15 DM. Auf diese Verurteilung hin hat das Amtsgericht Tiergarten am 16. Juni 2000 die Bewährungszeit in dieser Sache um ein Jahr und sechs Monate bis zum 19. März 2001 verlängert. Dabei ist der Beschwerdeführer darauf hingewiesen worden, daß der Widerruf der Strafaussetzung wegen einer weiteren, aber noch nicht rechtskräftig festgestellten Straftat später zu prüfen sein wird. Er hatte zuvor am 6. Januar 1999 gemeinsam mit einem Bekannten etwa 260 g Marihuana und etwa 150 g Haschisch in Amsterdam gekauft und das Rauschgift mit einem Gesamtwirkstoffanteil von 37,26 g Tetrahydrocannabinol nach Deutschland eingeführt. Auf die Berufung des Beschwerdeführers verringerte das Landgericht Münster am 15. August 2000 die vom Amtsgericht Ibbenbüren wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge verhängte Freiheitsstrafe auf ein Jahr und acht Monate; das Urteil ist seit dem 20. August 2000 rechtskräftig. Mit Beschluß vom 16. August 2001 hat das Landgericht Berlin -Strafvollstreckungskammer - die Strafaussetzung zur Bewährung widerrufen.
Hiergegen richtet sich die sofortige Beschwerde des Verurteilten. Das Rechtsmittel ist zulässig (§ 453 Abs. 2 Satz 3, § 311 Abs. 2 StPO), hat aber in der Sache keinen Erfolg. Die Generalstaatsanwaltschaft Berlin hat dazu wie folgt Stellung genommen:
"1. Der Ablauf der Bewährungszeit im März 2001 steht dem Widerruf nicht entgegen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Kammergerichts und anderer Oberlandesgerichte ist der Widerruf auch nach Ablauf der Bewährungszeit zulässig (vgl. BGH NStZ 1998, 586; OLG Zweibrücken JR 1991, 477; NStZ 1988, 501; OLG Celle StV 1987, 30; OLG Bremen StV 1986, 165; OLG Hamm NStZ 1998, 478, 479; StV 1985, 198; KG, Beschlüsse vom 25. April 2001 - 5 Ws 161 und 188/01 - und vom 15. September 1999 - 5 Ws 499/99 -; Gribbohm in LK-StGB 11. Aufl., § 56f Rdn. 47; Tröndle/Fischer, StGB 50. Aufl., § 56f Rdn. 2a; Stree in Schönke/Schröder, StGB 26. Aufl., § 56f Rdn. 13; jeweils mit weit. Nachw.). Eine bestimmte Frist, innerhalb derer die Widerrufsentscheidung ergehen muss und nach deren Ablauf der Widerruf unzulässig wäre, gibt es nicht. Die Frist des § 56g Abs. 2 Satz 2 StGB ist auf § 56f nicht anwendbar (vgl. OLG Hamm NStZ 1998, 478, 479; OLG Düsseldorf NStZ-RR 1997, 254; VRS 90, 284; 89, 365; 85, 290; Gribbohm a.a.O. mit weit. Nachw.); denn ihre Anwendbarkeit setzt voraus, dass die Strafe zuvor erlassen und damit ein gesetzlich vertypter Vertrauenstatbestand geschaffen worden ist.
Der Widerruf ist indes nicht unbegrenzt möglich. Er hat zu unterbleiben, wenn aus Gründen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes des Verurteilten eine solche Entscheidung nicht mehr vertretbar ist (vgl. KG a.a.O.), weil sie ungebührlich hinausgezögert worden ist und der Verurteilte mit ihr nicht mehr zu rechnen braucht (vgl. OLG Düsseldorf a.a.O.; OLG Karlsruhe NStZ-RR 1997, 253). Die Vertrauensbildung ist kein plötzliches Ereignis, sondern ein sich entwickelnder Prozess, in dessen Verlauf der Verurteilte auch die Bearbeitungszeiten bei den Gerichten und der Staatsanwaltschaft berücksichtigen muss (vgl. KG, Beschluss vom 31. Januar 1996 - 5 Ws 7/96 -).
Ferner sind die Art und Schwere der in der Bewährungszeit begangenen Taten (vgl. OLG Hamm NStZ 1984, 362) von Bedeutung sowie ihre Häufigkeit (vgl. KG, Beschluss vom 25. April 2001 - 5 Ws 161 und 188/01 -). Je schwerer und je häufiger der Proband in der Bewährungszeit versagt hat, desto weniger kann sich ...