Leitsatz (amtlich)
1. Bei der Entscheidung über den weiteren Vollzug einer Freiheitsstrafe nach § 57 Abs. 1 StGB gilt für die tatsächlichen Grundlagen der zu treffenden Prognoseentscheidung das Gebot bestmöglicher Sachaufklärung, dem zufolge das Gericht sich um eine möglichst breite und aktuelle Tatsachengrundlage zu bemühen hat. Hierzu gehört insbesondere die Einholung einer zum Entscheidungszeitpunkt hinreichend aktuellen Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt.
2. Über die mündliche Anhörung nach § 454 Abs. 1 Satz 3 StPO muss zwar kein förmliches Protokoll aufgenommen werden. Jedoch ist der wesentliche Inhalt der Anhörung – insbesondere die wesentlichen vom Verurteilten geltend gemachten Gesichtspunkte und die wesentlichen Ausführungen des Sachverständigen – entweder zusammenfassend in den Beschlussgründen wiederzugeben oder in einem Aktenvermerk niederzulegen, um dem Beschwerdegericht eine Überprüfung der Entscheidung zu ermöglichen.
Verfahrensgang
LG Berlin (Entscheidung vom 31.07.2020; Aktenzeichen 583 StVK 216/19) |
Tenor
Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluss des Landgerichts Berlin - Strafvollstreckungskammer - vom 31. Juli 2020 aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Entscheidung - auch über die Kosten der sofortigen Beschwerde - an die Strafvollstreckungskammer zurückverwiesen.
Gründe
I.
Der Verurteilte verbüßt zurzeit eine Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und zehn Monaten wegen "Vergewaltigung in vier Fällen tateinheitlich begangen mit schwerem sexuellen Missbrauch von Kindern in weiterer Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen, schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen, davon in zwei Fällen tateinheitlich begangen mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen, sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei Fällen tateinheitlich begangen mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen sowie wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in zwei Fällen" aus dem Urteil des Landgerichts Berlin vom 9. Oktober 2015. Zwei Drittel der Strafe waren am 12. April 2020 vollstreckt; das Strafende ist auf den 23. März 2022 (Tagesende) notiert.
Der zuständige Gruppenleiter der Justizvollzugsanstalt hat in der Stellungnahme vom 7. November 2019 eine vorzeitige Entlassung des Beschwerdeführers befürwortet. Mit Beschluss vom 22. November 2019 hat die Strafvollstreckungskammer den Sachverständigen H. mit der Erstellung eines Gutachtens zur Frage des Fortbestehens der bei dem Verurteilten durch die Tat zutage getretenen Gefährlichkeit beauftragt. Der Sachverständige hat sein Gutachten am 17. April 2020 erstellt und ist darin zu dem Ergebnis gelangt, dass die Gefährlichkeit des Beschwerdeführers fortbestehe. Die Staatsanwaltschaft ist einer bedingten Entlassung des Beschwerdeführers entgegengetreten.
Mit dem angefochtenen Beschluss hat die Strafvollstreckungskammer den Antrag des Verurteilten, die Vollstreckung der Reststrafe zur Bewährung auszusetzen, nach persönlicher Anhörung des Verurteilten und des Sachverständigen abgelehnt.
II.
Die sofortige Beschwerde ist nach § 454 Abs. 3 Satz 1 StPO statthaft und auch sonst zulässig, insbesondere innerhalb der Wochenfrist des § 311 Abs. 2 StPO eingelegt worden. Sie hat (vorläufig) Erfolg.
Die Vorgehensweise der Strafvollstreckungskammer leidet an wesentlichen Verfahrensmängeln, die der Senat im Beschwerdeverfahren nicht beheben kann.
1. Nach dem Gebot der bestmöglichen Sachaufklärung konnte die Strafvollstreckungskammer hier nicht auf die Einholung einer aktualisierten Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt und die Ladung des für den Beschwerdeführer in der Justizvollzugsanstalt zuständigen Gruppenleiters zum Anhörungstermin verzichten.
Bei der Entscheidung über den weiteren Vollzug einer Freiheitsstrafe nach § 57 Abs. 1 StGB gilt für die tatsächlichen Grundlagen der zu treffenden Prognoseentscheidung das Gebot bestmöglicher Sachaufklärung aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG und Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG. Es verlangt, dass das Gericht sich um eine möglichst breite Tatsachenbasis bemüht und sich so ein möglichst umfassendes Bild über die zu beurteilende Person verschafft und alle prognoserelevanten Umstände sorgfältig klärt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 4. Juni 2020 - 2 BvR 343/19 -, juris Rn. 23 f. m. w. N.). Die Sachaufklärungspflicht gebietet es zudem, auf aktueller Tatsachengrundlage zu entscheiden (vgl. OLG Stuttgart, Beschluss vom 30. Dezember 2019 - 4 VAs 6/19 -, juris Rn 20; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 5. Januar 2018 - 2 Ws 379/17 -, juris Rn. 3; OLG Hamm, Beschluss vom 7. Februar 2017 - III-4 Ws 272/16 -, juris Rn 10; KG, Beschluss vom 19. September 2012 - 2 Ws 269-270/12). Dabei haben die Anforderungen an die Sachaufklärung sowohl dem Sicherheitsaspekt als auch dem hohen Wert der Freiheit des Verurteilten Rechnung zu tragen (vgl. BVerfG, a. a. O., Rn. 24). Dies kann es im Einzelfall auch erforderlich machen, ergänzende Vernehmungen durchzuführen (vgl. BVerfG, a. a. O. Rn. 33).
a) Nach diesen Grundsätzen war es hier erforderlich, ...