Leitsatz (amtlich)
Geht eine an das unzuständige Landgericht adressierte Berufungseinlegung bei einer von diesem und dem zuständigen Amtsgericht gemeinsam betriebenen Briefannahmestelle ein, so ist die unrichtige Adressierung jedenfalls dann unschädlich, wenn die Mitarbeitenden der Briefannahmestelle die unrichtige Adressierung erkennen und das Schreiben dem zuständigen Amtsgericht zuordnen.
Verfahrensgang
AG Berlin-Tiergarten (Entscheidung vom 15.03.2017; Aktenzeichen (560) 236 Js 1556/16 Ns (31/17)) |
Tenor
1. Auf die sofortige Beschwerde des Angeklagten wird der Beschluss des Landgerichts Berlin vom 15. März 2017 aufgehoben.
Es wird festgestellt, dass der Angeklagte rechtzeitig Berufung gegen das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 9. Januar 2017 eingelegt hat.
2. Der Beschluss des Landgerichts Berlin vom 13. April 2017 betreffend die Verwerfung des Antrags des Angeklagten auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung der Berufung gegen das vorbezeichnete Urteil des Amtsgerichts Tiergarten und die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde des Angeklagten vom 26. April 2017 sind gegenstandslos.
3. Die Kosten der sofortigen Beschwerde zu 1. und die dem Angeklagten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen hat die Landeskasse Berlin zu tragen.
Gründe
Das Amtsgericht Tiergarten hat den Angeklagten in dessen Anwesenheit am 9. Januar 2017 wegen vorsätzlichen Waffenbesitzes entgegen einer vollziehbaren Anordnung zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt.
Gegen dieses Urteil hat der Angeklagte mit Schreiben vom 16. Januar 2017 unter Angabe des Urteilsdatums und vollständiger Nennung des amtsgerichtlichen Aktenzeichens - (259 Cs) 236 Js 1556/16 (414/16) - "Widerspruch" eingelegt. Als Ziel seines Rechtsmittels hat er die Verhängung einer Geldstrafe benannt. Das an das Landgericht Berlin adressierte Schreiben trägt den Eingangsstempel der Justizbehörden Berlin-Moabit mit der Datums- und Zeitangabe: "16.01.17 12-14". Mit rotem Kugelschreiber ist auf dem Schriftstück ein doppelt ausgestrichener Pfeil angebracht, der auf den Aktenzeichenteil "259 Cs" gerichtet ist. Am 18. Januar 2017 hat die Registratorin der Geschäftsstelle der Abteilung 259 des Amtsgerichts Tiergarten den dortigen Eingang des Schriftstücks vermerkt, und am selben Tage hat die Abteilungsrichterin die Verfügung getroffen, dass die Berufung rechtzeitig eingelegt und die Sache von der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle weiter zu bearbeiten sei. Anhaltspunkte dafür, dass das Schreiben zunächst in den Geschäftsbereich des Landgerichts gelangt sein könnte, sind nicht ersichtlich.
Die Staatsanwaltschaft Berlin hat die Akten mit Verfügung vom 8. März 2017 dem Landgericht Berlin mit dem Antrag zugeleitet, es möge - unter Ladung der Zeugen wie in der ersten Instanz - Termin zur Berufungshauptverhandlung bestimmen.
Der Vorsitzende der Berufungskammer, bei der die Sache am 13. März 2017 einging, hat demgegenüber die Berufung mit dem angefochtenen Beschluss vom 15. März 2017 als unzulässig, weil verspätet, verworfen. Unter Hervorhebung des Umstands, dass das Schreiben des Angeklagten "auf der Geschäftsstelle der zuständigen Abteilung des Amtsgerichts (...) erst am 18. Januar 2017" eingegangen sei, hat er seine Entscheidung unter Bezugnahme auf eine Entscheidung des Kammergerichts damit begründet, dass eine bei einer Gemeinsamen Briefannahmestelle eingegangene, an ein unzuständiges Gericht gerichtete Rechtsmittelschrift bei dem zuständigen Gericht erst eingehe, wenn dieses tatsächlich die Verfügungsgewalt über das Schriftstück erlangt habe; dies aber sei - wie seine Erkundigungen bei der besagten Geschäftsstelle des Amtsgerichts ergeben hätten - erst am 18. Januar 2017 geschehen. Auf den Umstand, dass sich die Berufungsschrift zwischen dem 16. und 18. Januar 2017 nicht beim Landgericht befunden hat, komme es nach seinen Ausführungen "zum Wesen der Gemeinsamen Briefannahmestelle" nicht an.
1. Die nach § 322 Abs. 2 StPO statthafte und fristgerecht erhobene sofortige Beschwerde des Angeklagten hat Erfolg.
Das Landgericht hat das nach § 300 StPO zutreffend als Berufung behandelte Rechtsmittel des Angeklagten zu Unrecht als verspätet verworfen. Die am 16. Januar 2017 bei der Gemeinsamen Briefannahmestelle im Kriminalgerichtsgebäude eingegangene Rechtsmittelschrift hat die Frist des § 314 Abs. 1 StPO gewahrt. Die angefochtene Entscheidung lässt sich mit dem von Verfassungs wegen zu beachtenden Gebot, den Zugang zu den dem Rechtssuchenden eingeräumten Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise zu erschweren (vgl. BVerfG NJW-RR 2008, 446, 447 mwN), nicht vereinbaren.
a) Für die Rechtzeitigkeit des Eingangs eines fristwahrenden Schriftstücks ist allein entscheidend, dass es innerhalb der Frist tatsächlich in den Verfügungsbereich des zuständigen Gerichts gelangt und damit dem Zugriff des Absenders nicht mehr zugänglich ist (vgl. BVerfG aaO. mwN). Wie und wann diese Verfügungs...