Verfahrensgang

LG Berlin (Entscheidung vom 23.11.2006)

AG Bad Freienwalde (Entscheidung vom 23.04.2002)

 

Tenor

Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluß des Landgerichts Berlin - Strafvollstreckungskammer - vom 23. November 2006 aufgehoben.

Der Antrag der Staatsanwaltschaft Frankfurt/Oder, die Strafaussetzung zur Bewährung aus dem Strafbefehl des Amtsgerichts Bad Freienwalde vom 23. April 2002 zu widerrufen, wird abgelehnt.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Verurteilten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen hat die Landeskasse Berlin zu tragen.

 

Gründe

I.

1.

Das Amtsgericht Bad Freienwalde verurteilte den Beschwerdeführer durch Strafbefehl vom 23. April 2002, rechtskräftig seit dem 14. Mai 2002, wegen gefährlicher Körperverletzung und versuchter Nötigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe (dort: Freiheitsstrafe) von sechs Monaten mit Strafaussetzung zur Bewährung. Die Bewährungszeit bestimmte das Amtsgericht auf zwei Jahre (also bis zum 13. Mai 2004) und erteilte ihm gemäß § 56c Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 StGB die Weisungen (nicht: Auflagen, § 56b StGB), sich straffrei zu führen (insoweit überflüssig) und jeden Wohnungs- und Aufenthaltswechsel unverzüglich zur Akte mitzuteilen.

Am 28. April 2002 beging der Beschwerdeführer eine Sachbeschädigung, die das Amtsgericht Strausberg am 24. Oktober 2002 mit einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 5 EUR - rechtskräftig - ahndete.

2.

Mit Beschluß vom 15. April 2004 verlängerte das Amtsgericht Tiergarten in Berlin, auf das die Zuständigkeit bereits am 31. Mai 2002 übertragen worden war ( §§ 462a Abs. 2 Satz 2, 453 StPO), die Bewährungszeit um ein Jahr, weil der Beschwerdeführer zuletzt bis Dezember 2002 unerlaubt Betäubungsmittel erworben hatte. Das Amtsgericht Strausberg hatte ihn deshalb am 23. Dezember 2003 rechtskräftig zu einer Geldstrafe von 80 Tagessätzen zu je 10 Euro verurteilt. Den Beschluß expedierte die Kanzlei am 17. Juni 2004. Mit Beschluß vom 22. September 2005 verlängerte das Amtsgericht Tiergarten die Bewährungszeit um ein weiteres Jahr, weil der Beschwerdeführer am 30. August 2003 exhibitionistische Handlungen in Tateinheit mit einer Beleidigung und eine vorsätzliche Körperverletzung begangen hatte, die das Amtsgericht Tiergarten in Berlin durch Urteil vom 6. Juli 2005 mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten mit Strafaussetzung zur Bewährung geahndet hatte.

3.

Am 5. Juni 2004 beging der Verurteilte eine gefährliche Körperverletzung, wofür das Amtsgericht Strausberg ihn mit Urteil vom 28. Januar 2005 in Verbindung mit dem Urteil des Landgerichts Frankfurt/Oder vom 20. September 2005, rechtskräftig seit dem 15. Februar 2006, zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten verurteilte, die er zur Zeit verbüßt.

Deswegen widerrief die Strafvollstreckungskammer mit dem angefochtenen Beschluß die Strafaussetzung. Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde ( § 453 Abs. 2 Satz 3 StPO) des Verurteilten hat Erfolg.

II.

Die formellen Voraussetzungen des Widerrufs nach § 56 f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB liegen nicht vor. Der Verurteilte hatte zwar eine neue Straftat begangen, welche die ursprüngliche Prognose der künftigen Straffreiheit widerlegte. Dies tat er aber nicht "innerhalb der Bewährungszeit".

1.

Die zunächst vom Amtsgericht bestimmte zweijährige Bewährungszeit endete am 13. Mai 2004. Am 15. April 2004 verlängerte das Amtsgericht Tiergarten die Bewährungszeit um ein Jahr, also bis zum 13. Mai 2005, da sich die verlängerte Bewährungszeit an die ursprüngliche anschließt (vgl. OLG Celle NStZ 1991, 206; KG JR 1993, 75; StV 1986, 165 und Beschluß vom 6. Oktober 2004 - 5 Ws 465/04 -; Ruß in LK, StGB 11. Aufl., § 56 f Rdn. 42 mit weit. Nachw.; a.A.: OLG Bamberg NStZ-RR 2006, 326; Horn NStZ 1986, 356). Dem Verurteilten übersandt wurde die Entscheidung am 17. Juni 2004. Die zum Widerruf durch die Strafvollstreckungskammer führende Straftat hatte der Beschwerdeführer am 5. Juni 2004 begangen, also zwischen dem Ablauf der ursprünglichen Bewährungszeit und der Kenntnis ihrer Verlängerung. Eine zu diesem Zeitpunkt begangene Tat kann regelmäßig keinen Widerrufsgrund bilden. Denn obwohl sich die verlängerte Bewährungszeit unmittelbar an die ursprüngliche anschließt, macht dieser Umstand nicht ungeschehen, daß der Verurteilte zum Tatzeitpunkt tatsächlich (noch) nicht wußte, daß er weiterhin unter Bewährung stand und mit einem Widerruf nicht überrascht werden darf (vgl. BVerfG NStZ 1995, 437; OLG Hamm StV 1998, 215; OLG Bamberg a.a.O.; KG StV 1986, 165 sowie Beschlüsse vom 6. August 2004 - 5 Ws 465/04 - und 9. August 1993 - 5 Ws 271/93 -; Ruß a.a.O. Rdn. 43).

2.

a)

Ein Ausnahmefall, wie er der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (a.a.O.) zugrunde lag, ist hier nicht gegeben. Diese Entscheidung hat zwar diejenige des Senats (Beschluß vom 15. Dezember 1994 - 5 Ws 445/94 -) bestätigt, wonach in jenem konkreten Fall auch eine in sogenannter "bewährungsfreier Zeit" begangene Tat Widerrufsgrund sein kann. Der dortige Sachverhalt weicht a...

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