Entscheidungsstichwort (Thema)
Keine Zulassungsrechtsbeschwerde gegen nach § 72 OWiG erlassenen Beschluss
Orientierungssatz
Orientierungssätze:
1. Nach der unmissverständlichen Formulierung des § 79 Abs.1 Satz 2 OWiG ist die Zulassung der Rechtsbeschwerde nur gegen Urteile möglich. Gegen nach § 72 OWiG erlassene Beschlüsse ist eine Zulassungsrechtsbeschwerde ausgeschlossen.
2. Gibt das Tatgericht dem Betroffenen unter Fristsetzung die Möglichkeit, rechtsfolgenmindernde Umstände nachzuweisen (hier: verkehrserzieherische Nachschulung), so stellt es eine Verletzung rechtlichen Gehörs im Sinne des § 79 Abs. 1 Nr. 5 Alt. 2 OWiG dar, wenn der nach § 72 OWiG ergehende Beschluss vor Fristablauf ergeht.
Normenkette
StPO § 300; OWiG § 72 Abs. 1, § 79 Abs. 1 Nr. 5 Alt. 2
Verfahrensgang
AG Berlin-Tiergarten (Entscheidung vom 21.11.2022; Aktenzeichen 433 OWi 24/22 Jug) |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss des Amtsgerichts Tiergarten vom 21. November 2022 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde - an das Amtsgericht zurückverwiesen.
Gründe
Der Polizeipräsident in Berlin hat gegen den Betroffenen wegen einer fahrlässig begangenen Geschwindigkeitsüberschreitung eine Geldbuße von 130 Euro festgesetzt. Auf den hiergegen gerichteten Einspruch hat das Amtsgericht Termin anberaumt, in dem der Betroffene den Einspruch auf die Rechtsfolgen beschränkt hat. Ferner ist zu Protokoll genommen worden, dass allseits Einverständnis damit besteht, dass gegebenenfalls nach § 72 OWiG im Beschlusswege entschieden wird. Der Vorsitzende hat daraufhin die Amtsanwaltschaft davon unterrichtet, dass der Betroffene geständig sei und angefragt, ob sie einverstanden sei, wenn der Betroffene, sollte er eine verkehrserzieherische Nachschulung belegen, nur zu einer Geldbuße von 55 Euro verurteilt werde. Die Amtsanwaltschaft ist einverstanden gewesen, und dem Betroffenen ist anheimgestellt worden, die Nachschulung bis Ende November 2022 zu belegen. Ersichtlich versehentlich hat das Amtsgericht durch nach § 72 OWiG erlassenem Beschluss vorfristig bereits am 21. November 2022 wegen einer fahrlässigen Geschwindigkeitsüberschreitung auf eine Geldbuße von 130 Euro erkannt. Hiernach hat der Betroffene, noch fristgemäß, einen Nachweis über die Nachschulung zu den Akten gereicht. Gegen den Beschluss des Amtsgerichts richtet sich das als Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde bezeichnete Rechtsmittel des Betroffenen. Das Rechtsmittel hat als Rechtsbeschwerde Erfolg.
1. Allerdings ist die Rechtsbeschwerde nach § 79 Abs.1 Satz 2 OWiG lediglich "gegen das Urteil" zulässig, "wenn sie zugelassen wird (§ 80)". Nach dieser unmissverständlichen Formulierung ist die Zulassung der Rechtsbeschwerde nur gegen Urteile möglich. Gegen nach § 72 OWiG erlassene Beschlüsse ist eine Zulassungsrechtsbeschwerde ausgeschlossen. Sie sind lediglich nach Maßgabe des § 79 OWiG mit der Rechtsbeschwerde anfechtbar.
2. Der Senat deutet das Rechtsmittel, schon wegen des für den Betroffenen unglücklichen Verfahrensgangs, entsprechend § 300 StPO in eine Rechtsbeschwerde um. Diese ist nach § 79 Abs. 1 Nr. 5 OWiG zulässig, wenn "durch Beschluss nach § 72 entschieden worden ist, obwohl der Beschwerdeführer diesem Verfahren rechtzeitig widersprochen hatte oder ihm in sonstiger Weise das rechtliche Gehör versagt wurde".
a) Die Rechtsmittelschrift enthält keinerlei Tatsachen zum Verfahrensgeschehen, das dazu geführt hat, dass das Amtsgericht sich als berechtigt angesehen hat, nach § 72 OWiG zu entscheiden. Zur Beanstandung dieses Verfahrensgeschehens hätte es einer den Voraussetzungen der §§ 79 Abs. 3 Satz 3 OWiG, 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügenden Verfahrensrüge bedurft. Eine solche fehlt.
b) Unter rechtsmittelfreundlicher Auslegung (vgl. gleichfalls zu § 72 OWiG: Senat, Beschluss vom 18. Oktober 2021 - 3 Ws (B) 265/21 -) lässt die Rechtsmittelschrift indes die Beanstandung der Verletzung rechtlichen Gehörs erkennen, welche nach § 79 Abs. 1 Nr. 5 Alt. 2 OWiG zur Zulässigkeit der Rechtsbeschwerde führt. Ausweislich des Verfahrensvortrags hat das Amtsgericht nämlich in Unkenntnis einer fristgemäß zu den Akten gereichten Nachschulungsbescheinigung entschieden. Dieses Verfahrensgeschehen ist der Rechtsmittelschrift noch hinreichend klar zu entnehmen.
Die damit zulässig erhobene Verfahrensrüge ist auch begründet. Das behauptete Verfahrensgeschehen wird durch den Akteninhalt bestätigt. Indem der Jugendrichter die von ihm gesetzte Frist zum Nachweis einer Nachschulung, erkennbar versehentlich, nicht eingehalten hat, hat er den Anspruch des Betroffenen auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt. Denn dessen Nachschulung konnte nicht mehr Eingang in die Rechtsfolgenbemessung finden. Sie war aber aufgrund des Verfahrensablaufs erkennbar relevant, so dass nicht auszuschließen ist, dass das Urteil darauf beruht.
3. Das Urteil war daher aufzuheben, und die Sache ist vom Amtsgericht erneut, auch hinsichtlic...