Entscheidungsstichwort (Thema)
Rücksichtnahmegebot auch für Sonderrechtsfahrer
Leitsatz (amtlich)
Soweit ein Sonderrechtsfahrer nach § 35 Abs. 1 StVO von den Vorschriften der StVO befreit ist, ist er dennoch nach § 35 Abs. 8 StVO nicht vom allgemeinen Gebot der Rücksichtnahme auf die öffentliche Sicherheit und Ordnung entbunden; vielmehr ist die ihm obliegende Sorgfaltspflicht umso größer, je mehr seine gegen die StVO verstoßende Fahrweise, die zu der zu erfüllenden hoheitlichen Aufgabe nicht außer Verhältnis stehen darf, die Unfallgefahr erhöht.
Ein Fußgänger, der eine der beiden - durch einen breiten Mittelstreifen mit parkenden Fahrzeugen getrennten - Richtungsfahrbahnen einer großen Straße überschreitet, ist grundsätzlich nur verpflichtet, in die Richtung zu blicken, aus der - wie bei einer Einbahnstraße - Fahrzeuge zu erwarten sind; er muss auch nicht mit einem Sonderrechtsfahrzeug rechnen, das nur mit blauem Blinklicht - ohne Horn - eine Richtungsfahrbahn entgegen der Fahrtrichtung befährt.
Normenkette
StVO § 35; StVG §§ 7, 11; BGB §§ 823, 839
Verfahrensgang
LG Berlin (Urteil vom 14.05.2004; Aktenzeichen 24 O 432/02) |
Tenor
Auf die Berufung des Klägers, die im Übrigen zurückgewiesen wird, wird das am 14.5.2004 verkündete Urteil der Zivilkammer 24 des LG Berlin - 24 O 432/02 - teilweise abgeändert:
Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger weitere 1.148,27 EUR nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz aus 2.898 EUR für die Zeit von 1.8.2000 bis zum 25.2.2001 sowie aus 1.148,27 EUR für die Zeit seit dem 26.2.2001 zu zahlen.
Es wird festgestellt, dass der Beklagte dem Kläger zum Ersatz sämtlicher materiellen und immateriellen zukünftigen Schäden aus dem Verkehrsunfall vom 1.4.2000 verpflichtet ist, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen oder übergegangen sind.
Die weiter gehende Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits haben der Kläger zu 53 % und der Beklagte zu 47 % zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
Die Berufung ist zulässig und hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.
Der Beklagte ist verpflichtet, dem Kläger den diesem bei dem Verkehrsunfall am 1.4.2000 auf der B.-straße in Höhe der W. Straße entstandenen Schaden gem. §§ 7, 11 StVG, 823, 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG in vollem Umfang zu ersetzen. Auch steht dem Kläger gegen den Beklagten ein Schmerzensgeld i.H.v. 2.500 EUR zu. Der Beklagte ist dem Kläger zum Ersatz sämtlicher materiellen und immateriellen zukünftigen Schäden aus dem Verkehrsunfall vom 1.4.2000 verpflichtet, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen oder übergegangen sind.
A. Der einen Demonstrationszug auf einem Polizeimotorrad begleitende Polizeibeamte hat den Unfall dadurch schuldhaft verursacht, dass er die südliche Fahrbahn der B.-straße entgegen der Fahrtrichtung befuhr. Er hat gegen § 35 Abs. 8 StVO verstoßen.
Nach § 35 Abs. 1 StVO sind Sonderrechtsfahrzeuge, also auch Polizeimotorräder, von den Vorschriften der StVO befreit, "soweit das zur Erfüllung hoheitlicher Aufgaben dringend geboten ist"; diese Rechtsfolge tritt auch dann ein, wenn das Sonderrechtsfahrzeug weder Horn noch Blaulicht führt, oder diese zwar vorhanden sind, aber nicht betätigt werden (Jagusch/Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 33. Aufl. 1995, § 35 Rz. 4). Seit der Änderung der Straßenverkehrsordnung durch Verordnung vom 19.3.1992 darf nach § 38 Abs. 2 StVO bei Einsatzfahrten auch blaues Blinklicht allein verwendet werden (Jagusch/Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 33. Aufl. 1995, § 38 Rz. 3, 12; KG, Urt. v. 2.5.1996 - 12 U 2664/95; v. 25.4.1997 - 12 U 8659/95, KGReport Berlin 1998, 209 = VersR 1998, 778 = VM 1998, 66).
Es kann vorliegend dahinstehen, ob das Verhalten des Polizeibeamten zur Erfüllung hoheitlicher Aufgaben dringend geboten war. Jedenfalls hat der Polizeibeamte gegen das sich aus § 35 Abs. 8 StVO ergebende Gebot der Rücksichtnahme auf die öffentliche Sicherheit und Ordnung verstoßen. § 35 StVO befreit nicht von der allgemeinen Sorgfaltspflicht, die Wahrnehmung der Sonderrechte darf jeweils nur unter größtmöglicher Sorgfalt erfolgen. Je mehr sich der Einsatzfahrer über allgemeine Verkehrsregeln hinwegsetzt und dadurch die Unfallgefahren erhöht, desto größer ist die ihm obliegende Sorgfaltspflicht. Die Erfordernisse der Verkehrssicherheit haben Vorrang vor dem raschen Vorwärtskommen. Darüber hinaus darf die zu erfüllende hoheitliche Aufgabe zu dem Verkehrsverstoß nicht außer Verhältnis stehen.
Der Polizeibeamte muss damit rechnen, dass Fußgänger, die ihn wegen der auf dem Mittelstreifen geparkten Fahrzeuge nicht rechtzeitig wahrnehmen konnten, die wegen des Demonstrationszuges für den Fahrzeugverkehr gesperrte B.-straße von Norden kommend überqueren würden. Er hätte deshalb seine Geschwindigkeit entsprechend anpassen müssen und nicht auf der äußersten rechten Fahrbahn fahren dürfen. Er hat durch eine Fahrweise den Kläger in genau die Gefahr gebracht, die er mit einem Einsatz für...