1 Leitsätze
- Solange für die Ermittlung und Bewertung der auf Wohngrundstücke einwirkenden Geräusche keine bestimmten Mess- und Berechnungsverfahren sowie Lärmwerte vorgegeben sind, bleibt es der richterlichen Würdigung vorbehalten, unter Berücksichtigung der einzelnen Schallereignisse, ihres Schallpegels und ihrer Eigenart (Dauer, Häufigkeit, Impulshaltigkeit und ihres Zusammenwirkens) die Erheblichkeit der Lärmbelästigung zu beurteilen.
- Die "Freizeitlärmrichtlinie" vom 6.3.2015 kann als Orientierungshilfe zur Bestimmung der Grenze der Zumutbarkeit herangezogen werden. Sie darf jedoch nicht schematisch angewandt werden; die Zumutbarkeitsgrenze ist aufgrund einer umfassenden Würdigung aller Umstände des Einzelfalls zu bestimmen.
2 Das Problem
Die Zumutbarkeit von Lärmimmissionen ist gesetzlich in der TA-Lärm geregelt, die dem Schutz der Allgemeinheit und der Nachbarschaft vor schädlichen Umwelteinwirkungen durch Geräusche dient. Die TA-Lärm enthält präzise Immissionsrichtwerte für Immissionsorte außerhalb von Gebäuden. Sie reichen je nach Baugebietstyp bei Industriegebieten beispielsweise 70 dB(A), bis zu 50 dB(A) in reinen Wohngebieten. Die TA-Lärm ist eine verbindliche Rechtsnorm, an die Baubehörden und andere Genehmigungsbehörden gebunden sind. Die TA-Lärm gilt aber nicht für den Lärm, den temporäre Freizeitveranstaltungen verursachen. Hier gibt es lediglich eine sog. "Freizeitlärmrichtlinie", die von den obersten Behörden des Bundes und der Länder ausgearbeitet wurde und der Verwaltung als Hilfsmittel für die Beurteilung von Lärmimmission dienen soll.
3 Die Entscheidung
Die Entscheidung befasst sich mit der Klage des Eigentümers eines neu gebauten Wohnhauses, das in unmittelbarer Nachbarschaft zu einer bestehenden und bestandsgeschützten Freilichtbühne errichtet wurde. Auf der Bühne fanden im Sommerhalbjahr eine zahlenmäßig eng begrenzte Anzahl von Veranstaltungen statt. Bei dem Veranstaltungsort handelt es sich um eine bestandsgeschützte Anlage mit hoher Akzeptanz in der Bevölkerung. Das Bundesverwaltungsgericht musste sich mit der Frage befassen, ob es unter den Gesichtspunkten des Rücksichtnahmegebots gerechtfertigt ist, aufgrund der geringen Anzahl bestimmter Freizeitveranstaltungen für diese Veranstaltungen dem Nachbarn entsprechend der Wertung in der sog. Freizeitlärmrichtlinie vom 6.3.2015 mehr an Lärmbelästigung zuzumuten als bei den übrigen Veranstaltungen. Hierzu sagt das Bundesverwaltungsgericht, dass solange es für die Ermittlung und Bewertung der auf Wohngrundstücke einwirkenden Geräusche von Freizeitveranstaltungen keine bestimmten Mess- und Berechnungsverfahren gibt, die richterliche Würdigung der einzelnen Schallereignisse notwendig bleibt. Die Zumutbarkeitsgrenze ist aufgrund einer umfassenden Würdigung aller Umstände des Einzelfalls und insbesondere der speziellen Schutzwürdigkeit des jeweiligen Baugebiets zu bestimmen. Die von der Bund-Länder-Arbeitsgemeinschaft Immissionsschutz verabschiedete "Freizeitlärmrichtlinie" vom 6.3.2015 kann als Orientierungshilfe zur Bestimmung der Grenze der Zumutbarkeit herangezogen werden, sofern sie für die Beurteilung der Erheblichkeit einer Lärmbelästigung im konkreten Streitfall brauchbare Anhaltspunkte liefert. Sie darf jedoch nicht schematisch angewandt werden. Die Zumutbarkeitsgrenze ist aufgrund einer umfassenden Würdigung aller Umstände des Einzelfalls zu bestimmen. Die Freizeitlärmrichtlinie schränkt nicht die richterliche Würdigung dahingehend ein, dass das Gericht die Zumutbarkeit nur anhand deren Vorgaben zu prüfen hat.
4 Entscheidung
BVerwG, Beschluss v. 21.10.2020, 4 B 4.20