Entscheidungsstichwort (Thema)

Unwirksame betriebsbedingte Kündigung bei Möglichkeit anderweitiger Beschäftigung. Vorrang der Änderungskündigung vor Beendigungskündigung bei Besetzung eines freien Arbeitsplatzes durch weitere sachgrundlose Befristung des Arbeitsverhältnisses mit einer sozial weniger schutzwürdigen Arbeitnehmerin

 

Leitsatz (amtlich)

1. Das Merkmal der Dringlichkeit betrieblicher Erfordernisse im Sinne des § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG ist Ausdruck des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, aus dem sich ergibt, dass der Arbeitgeber vor jeder ordentlichen Beendigungskündigung von sich aus dem Arbeitnehmer eine sowohl diesem als auch ihm selbst objektiv mögliche anderweitge Beschäftigung auf einem freien Arbeitsplatz, gegebenfalls zu geänderten Bedingungen, anbieten muss (BAG 29. August 2013 - 2 AZR 809/12 -). Spricht der Arbeitgeber ohne vorheriges oder gleichzeitiges Angebot der geänderten Arbeitsbedingungen sofort eine Beendigungskündigung aus, so ist diese Kündigung regelmäßig sozialwidrig (BAG 21. April 2005 - 2 AZR 132/04 -).

2. Als frei sind Arbeitsplätze anzusehen, die zum Zeitpunkt der Kündigung unbesetzt sind oder bei denen im Kündigungszeitpunkt absehbar ist, dass sie zum Ablauf der Kündigungsfrist zur Verfügung stehen werden (BAG 25. April 2002 - 2 AZR 260/01 -). Der Arbeitgeber kann sich zur Rechtfertigung einer betriebsbedingten Kündigung nicht auf einen von ihm selbst treuwidrig herbeigeführten, durch eine vorgezogene Stellenbesetzung verursachten Wegfall freier Arbeitsplätze im Kündigungszeitpunkt berufen (BAG 12. August 2010 - 2 AZR 945/09 -).

3. Die Möglichkeit einer (weiteren) sachgrundlosen Befristung des Arbeitsverhältnisses mit einer sozial weniger schutzwürdigen Arbeitnehmerin bei einem für mehrere Arbeitnehmer im Rahmen der sozialen Auswahl gem. § 1 Abs. 3 KSchG zur Verfügung stehenden freien Arbeitsplatz rechtfertigt es nicht, dem sozial schutzwürdigeren Arbeitnehmer, der in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis steht, den freien Arbeitsplatz vor Ausspruch einer Beendigungskündigung nicht anbieten bzw. keine Änderungskündigung aussprechen zu müssen.

 

Normenkette

GG Art. 12 Abs. 1; KSchG § 1 Abs. 2 S. 1 Alt. 3, Abs. 3; BetrVG § 102 Abs. 1 Nr. 3

 

Verfahrensgang

ArbG Ulm (Entscheidung vom 23.09.2013; Aktenzeichen 4 Ca 567/12)

 

Tenor

  1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Ulm vom 23. September 2013 - Az: 4 Ca 567/12 - wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
  2. Die Revision wird für die Beklagte zugelassen.
 

Tatbestand

Die Parteien streiten darüber, ob die ordentliche Kündigung der Beklagten vom 18. Dezember 2012 ihr Arbeitsverhältnis aus dringenden betrieblichen Gründen mit Ablauf des 31. Januar 2013 beendet hat oder nicht.

Die am XX. XXXXX 19XX geborene, verheiratete Klägerin, die einem Kind unterhaltsverpflichtet ist, ist seit 1. November 2008 bei der Beklagten beschäftigt. Seit 1. September 2010 war sie - bis zuletzt - als Leiterin Public & Media Relations für die Beklagte tätig und zwar in der Zeit vom 1. September 2010 bis 31. August 2012 mit einer Arbeitszeit von 75 % (= 28,13 Stunden/Woche) einer Vollzeitarbeitskraft. Dafür erhielt sie 75 % der Vergütung der Entgeltgruppe E 12 K 6 (Bundesentgelttarifvertrag der chemischen Industrie) in Höhe von zuletzt 3.945,75 € brutto. Ihrer Tätigkeit ab 1. September 2010 als Leiterin Public & Media Relations lag ein schriftlicher Vertrag zwischen den Parteien zu Grunde, bezüglich dessen Einzelheiten vollinhaltlich auf Bl. 29 bis 32 der Akten-ArbG verwiesen wird. Die der Klägerin von der Beklagten insoweit konkret zugewiesenen Aufgaben ergeben sich aus der Stellenbeschreibung der Beklagten für die Stelle "Leiter/-in Public & Media Relations" vom 18. Januar 2011, bezüglich deren Einzelheiten vollinhaltlich auf Bl. 92 der Akten-ArbG verwiesen wird. Die Klägerin hat ein Studium der Germanistik und Geschichte absolviert und war vor ihrer Tätigkeit bei der Beklagten bei verschiedenen Unternehmen im PR-, Communications- und Marketingbereich tätig.

Die Beklagte betreut als Unternehmen die Kunden anderer Unternehmen der G. -Gruppe zu allen Fragen der Sanitärtechnik. Bei der Beklagten sind ca. 300 Arbeitnehmer beschäftigt. Für ihren Betrieb in P. ist ein Betriebsrat gewählt.

Mit Schreiben vom 16. November 2012, bezüglich dessen Einzelheiten vollinhaltlich auf Bl. 33 bis 36 der Akten-ArbG verwiesen wird und das der Betriebsrat am 20. November 2012 erhielt, hörte die Beklagten den für ihren Betrieb in P. gebildeten Betriebsrat schriftlich zu einer beabsichtigten ordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses gegenüber der Klägerin an. Mit Schreiben vom 26. November 2012, bezüglich dessen Einzelheiten vollinhaltlich auf Bl. 37 der Akten-ArbG verwiesen wird, widersprach der Betriebsrat dieser beabsichtigten Kündigung.

Mit Schreiben vom 18. Dezember 2012, bezüglich dessen Einzelheiten auf Bl. 6 der Akten-ArbG verwiesen wird und das die Klägerin anschließend vor dem 21. Dezember 2012 erhielt, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis der Kläger...

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