Entscheidungsstichwort (Thema)

Zur mißbräuchlichen Geltendmachung des Lohnfortzahlungsanspruchs. EuGH Paletta I und II

 

Orientierungssatz

1. Die Auslegung von Art 18 Abs 1-5 der VO (EWG) Nr 574/72 des Rates vom 21.03.1972 über die Einführung der Verordnung (EWG) Nr 1408/71, die der Europäische Gerichtshof im Urteil v 03.06.1992 in der Rechtssache C-45/90 (Paletta - AP Nr 1 zu Art 18 EWG-Verordnung Nr 574/72) vorgenommen hat, verwehrt es dem Arbeitgeber nicht, Nachweise zu erbringen, anhand deren das nationale Gericht ggf feststellen kann, daß der Arbeitnehmer mißbräuchlich oder betrügerisch eine gem Art 18 der Verordnung Nr 574/72 festgestellte Arbeitsunfähigkeit gemeldet hat, ohne krank gewesen zu sein (EuGH, Urt v 02.05.1996 - C-206/94 - Paletta II - AP Nr 2 zu Art 18 EWG-Verordnung Nr 574/72).

2. Der Arbeitnehmer hat keinen Anspruch auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall nach dem Lohnfortzahlungsgesetz iVm Art 22 der EWG-Verordnung Nr 1408/71 und den Art 18 und 24 der EWG-Verordnung Nr 574/72, wenn er in Wirklichkeit nicht arbeitsunfähig krank war und sein Verhalten mißbräuchlich oder betrügerisch war. Allerdings handelt der Arbeitnehmer in aller Regel mißbräuchlich oder betrügerisch, wenn er sich arbeitsunfähig krankschreiben läßt, obwohl er es nicht ist (BAG, Urt v 19.02.1997 - 5 AZR 747/93 - AP Nr 3 zu Art 18 EWG-Verordnung Nr 574/72).

3. Die Beweislast dafür, daß der Arbeitnehmer nicht arbeitsunfähig krank war, trägt der Arbeitgeber. Es reicht - anders als bei im Inland ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen - nicht aus, daß der Arbeitgeber Umstände beweist, die nur zu ernsthaften Zweifeln an der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit Anlaß geben (BAG, Urt v 19.02.1997 aa0). Allerdings ist der Arbeitgeber nicht darauf beschränkt, den Beweis dafür, daß der Arbeitnehmer nicht arbeitsunfähig krank war, unmittelbar, dh etwa durch Vernehmung des Arztes zu führen. Vielmehr ist - entsprechend den allgemeinen Beweisregeln - auch ein Indizienbeweis zulässig, also ein Beweis über (Hilfs-) Tatsachen, aus denen auf das Vorliegen der zu beweisenden rechtserheblichen Tatsache zu schließen ist.

4a. Nach dem in § 286 ZPO verankerten Grundsatz der freien Beweiswürdigung hat das Gericht "unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr zu erachten sei". Angesichts der Unzulänglichkeit der menschlichen Erkenntnismöglichkeiten ist eine jeden Zweifel ausschließende Gewißheit kaum zu erreichen. Sie kann daher auch nicht gefordert werden. Es kommt auf die persönliche Überzeugung des entscheidenden Richters an, der sich jedoch in zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewißheit begnügen muß (BAG, Urt v 19.02.1997aa0). Es ist daher rechtsfehlerhaft, einen Beweis deswegen nicht als erbracht anzusehen, weil keine absolute, über jeden denkbaren Zweifel erhabene Gewißheit gewonnen werden konnte.

b. § 286 Abs 1 ZPO gebietet die Berücksichtigung des gesamten Streitstoffes. Der Begriff "Beweiswürdigung" ist demgegenüber mißverständlich, da er nahelegt, es gehe nur um die Würdigung der Beweisaufnahme. Zu würdigen sind vielmehr auch die prozessualen und vorprozessualen Handlungen, Erklärungen und Unterlassungen der Parteien und ihrer Vertreter.

 

Tenor

1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Lörrach vom 25.08.1992 -- 1 Ca 341/89 -- abgeändert und wie folgt neu gefaßt:

Die Klage wird abgewiesen.

2. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten um Lohnfortzahlung (jetzt Entgeltfortzahlung) im Krankheitsfall für den Zeitraum vom 07. August 1989 bis 16. September 1989.

Der 1942 geborene Kläger, italienischer Staatsangehöriger, war von Februar 1974 bis April 1990 bei der Beklagten als Wartungsschlosser beschäftigt. Seine Ehefrau ... und die gemeinsamen volljährigen Kinder ... und ... waren ebenfalls Arbeitnehmer der Beklagten. Deren Arbeitsverhältnisse endeten wie folgt:

-- Ehefrau ... Februar 1990

-- Sohn ... Februar 1990

-- Tochter ... Januar 1990

Ab 17. Juli 1989 verbrachten der Kläger, seine Ehefrau und die beiden Kinder ihren bis zum 12. August 1989 bewilligten Urlaub in Italien. Während des Urlaubs meldeten sich alle Familienmitglieder krank und zwar für folgende Zeiträume:

-- der Kläger vom 07.08.1989 -- 22.09.1989

-- die Ehefrau ... vom 01.08.1989 -- 20.11.1989 (mindestens)

-- der Sohn ... vom 01.08.1989 -- 22.09.1989

-- die Tochter ... vom 02.08.1989 -- 17.11.1989.

Auch im Jahre 1988 hatten der Kläger und die übrigen Familienmitglieder gemeinsam Urlaub vom 11. Juli 1988 bis 05. August 1988. Während dieses Urlaubs meldeten sich folgende Familienmitglieder krank:

-- die Ehefrau ... vom 19.07.1988 -- 09.09.1988

-- die Tochter ... vom 27.07.1988 -- 09.09.1988.

Hinsichtlich der weiteren Urlaubs- und Krankheitszeiten des Klägers, seiner Ehefrau ... und der Kinder ... und ... wird auf die Anla...

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