Entscheidungsstichwort (Thema)
Kündigung eines Berufsausbildungsverhältnisses in der Probezeit als unwirksam bei Benachteiligung wegen einer Behinderung des Auszubildenden
Leitsatz (amtlich)
1. Die Kündigung eines Berufsausbildungsverhältnisses in der Probezeit ist unwirksam, wenn sie eine Benachteiligung wegen einer Behinderung des Auszubildenden darstellt.
2. Eine Benachteiligung wegen der Behinderung des Auszubildenden liegt vor, wenn das Ausbildungsverhältnis gekündigt wird, weil die Mutter, zugleich Betreuerin des Auszubildenden, vom Arbeitgeber im Hinblick auf die Behinderung ihres Sohnes besondere Maßnahmen verlangt.
3. Dass vom Auszubildenden keine - ggf. unerfüllbaren - Anforderungen an den Ablauf der Ausbildung gestellt werden oder dass seine Betreuungsperson keine - ggf. unerfüllbaren - Forderungen an den Ausbilder in Bezug auf das Führen von Gesprächen stellt oder sich im Ton mäßigt, sind keine wesentlichen und entscheidenden beruflichen Anforderungen im Sinne von § 8 Abs. 1 AGG bzw. Art. 5 RL 2000/78/EG.
Normenkette
BBiG § 22; AGG §§ 1, 7; RL 2000/78/EG Art. 5; AGG § 7 Abs. 1
Verfahrensgang
ArbG Freiburg i. Br. (Entscheidung vom 01.02.2023; Aktenzeichen 6 Ca 4/22) |
Tenor
I. Auf Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Freiburg - Kammern Offenburg - vom 01.02.2023, Az. 6 Ca 4/22, abgeändert:
- Es wird festgestellt, dass das Ausbildungsverhältnis der Parteien nicht durch die Kündigung der Beklagten vom 15.12.2021 zum Ablauf des 31.12.2021 endet.
- Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des vorliegenden Rechtsstreits zu den bisherigen Bedingungen zum Verkäufer auszubilden.
- Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
II. Die Revision wird für die Beklagte zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit der Kündigung ihres Ausbildungsverhältnisses durch die Beklagte in der Probezeit.
Der 1995 geborene Kläger ist schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung von 80.
Er erlitt durch einen Verkehrsunfall im Jahr 2007 ein Schädel-Hirn-Trauma und in dessen Folge leidet er an einem hirnorganischen Psychosyndrom. Im fachärztlichen Gutachten des neurologischen Fachkrankenhauses Kinderklinik SB. vom 29.03.2017 (Anl. K8, ABl. 83) ist die gesundheitliche Situation des Klägers wie folgt beschrieben:
"Deutlich herabgesetzte Belastbarkeit, auch bei andauernden kognitiven Anforderungen verstärktes Auftreten von Beschwerden wie Kopfschmerzen. Emotional phasenweise labil ohne akute Suizidalität, Coping-Probleme, soziale Konflikte. Die kognitive Leistungsfähigkeit liegt im deutlich unterdurchschnittlichen Bereich (entspricht dem Bereich einer grenzwertigen Intelligenz, Ausschluss einer geistigen Behinderung), verlangsamtes Arbeitstempo, reduzierte verbale Lern- und Merkfähigkeit, jedoch grundsätzlich einige individuelle Stärken, u.a. im Rechnen. Durch ausreichenden Nachteilsausgleich und besondere Lernumgebung in sonderpädagogischen Schulen wurde der Hauptschulabschluss erreicht. Eine geschützte Reha-Ausbildung findet derzeit statt, noch große Unsicherheit bzgl. der beruflichen Möglichkeiten, da ggf. zu schwach für allgemeinen Arbeitsmarkt, zu fit für eine Werkstatt für Menschen mit Behinderung. Empfohlen wird auch eine psychologische/psychotherapeutische Unterstützung der Krankheitsverarbeitung, zumindest auch die verstärkte Nutzung der Sozialbegleitung vor Ort."
Eine erste Berufsausbildung zum Schreiner musste aus medizinischen Gründen abgebrochen werden. Der Kläger absolvierte dann ein Praktikum im X., das seinen Neigungen und Fähigkeiten entsprach.
Der Kläger wird nach seinen Angaben durch seine Mutter gesetzlich vertreten.
Die Beklagte bietet Berufsausbildungen in Verbindung mit einer berufspraktischen Tätigkeit in einer außerbetrieblichen Einrichtung (Partnerbetrieb) an.
Am 17.08.2021 schlossen die Parteien, der Kläger vertreten durch seine Mutter, einen Berufsausbildungsvertrag zum Verkäufer. Die betriebliche Ausbildung erfolgte bei der Firma Y. gemeinnützige GmbH aufgrund einer vertraglichen Vereinbarung zwischen dieser und der Beklagten in deren "X.", in dem der Kläger bereits ein Praktikum abgeleistet hatte. Die Unfallkasse Baden-Württemberg bewilligte dem Kläger zur Finanzierung der Ausbildung Ausbildungskosten, Fahrtkosten sowie Übergangsgeld (vergleiche Bewilligungsbescheid vom 04.08.2021, Bl. 12 ff. der Akte). Seitens der Beklagten wurde an den Kläger im Hinblick auf die geförderte Maßnahme keine Ausbildungsvergütung bezahlt.
Die tägliche Ausbildung des Klägers war wie folgt gegliedert:
Montag: Berufsschule, ganztags, 7:45 Uhr - 15:15 Uhr
Dienstag: Anwesenheit S., ganztags, 7:45 Uhr - 16:30 Uhr
Mittwoch: vormittags Berufsschule, 7:45 Uhr - 12:00 Uhr, nachmittags Stütz- und Förderunterricht bei S., 13:00 Uhr - 16:00 Uhr, 4 Unterrichtseinheiten
Donnerstag: Praktikum bei X.
Freitag: Praktikum bei X.
Während der Anwesenheit an Dienstagen wurde der Kläger im Kiosk oder Servicecenter der Beklagten ausgebildet. Hierbei ging es um die Vornahme einer Bestandsau...