Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiederholung der Betriebsratsanhörung bei wesentlicher Änderung des Sachverhalts. Unwirksame Kündigung eines schwerbehinderten Bereichsleiters bei wesentlicher Änderung aufgrund umfangreicher Stellungnahme zum Kündigungssachverhalt im Rahmen des Verfahrens vor dem Integrationsamt
Leitsatz (amtlich)
Die Betriebsratsanhhörung ist zu wiederholen, wenn sich vor Ausspruch der Kündigung der dem Betriebsrat im ersten Anhörungsverfahren unterbreitete Sachverhalt in wesentlichen Punkten zugunsten des Arbeitnehmers geändert hat (im Anschluss an BAG 20.01.2000 - 2 AZR 378/99, 11.03.1998 - 2 AZR 401/97; 18.05.1994 - 2 AZR 626/93; 28.06.1984 - 2 AZR 217/83; 01.04.1981 - 7 AZR 1003/78; 26.05.1977 - 2 AZR 201/76). Eine solche wesentliche Änderung ist jedenfalls dann gegeben, wenn bei einer auf zahlreiche einzelne Vorwürfe gestützten Kündigung dem Betriebsrat mitgeteilt wird, der Arbeitnehmer habe sich auf eine schriftliche Anhörung nicht geäußert, und der Arbeitnehmer kurz darauf im Rahmen einer Verhandlung vor dem Integrationsamt eine umfangreiche schriftliche Stellungnahme abgibt.
Normenkette
BetrVG § 102 Abs. 1 Sätze 1-3; SGB IX §§ 85, 91 Abs. 1; BGB § 134
Verfahrensgang
ArbG Stuttgart (Entscheidung vom 02.07.2014; Aktenzeichen 14 Ca 6190/13) |
Nachgehend
Tenor
I.
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Stuttgart (14 Ca 6190/13) vom 02.07.2014 im Kostenpunkt aufgehoben, im übrigen abgeändert und zur Klarstellung wie folgt neu gefasst:
- Es wird festgestellt, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis durch die fristlose Kündigung vom 13.08.2013 nicht beendet worden ist.
- Es wird festgestellt, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis durch die ordentliche Kündigung vom 13.08.2013 zum 31.03.2014 nicht beendet worden ist.
- Es wird festgestellt, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis durch die fristlose Kündigung vom 26.09.2013 nicht beendet worden ist.
- Es wird festgestellt, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis durch die ordentliche Kündigung vom 28.10.2013 zum 30.06.2014 nicht beendet worden ist.
- Im übrigen wird die Klage abgewiesen.
II.
Die Berufung der Beklagten wird zurückgewiesen.
III.
Der Auflösungsantrag der Beklagten wird zurückgewiesen.
IV.
Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
V.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um eine fristlose, hilfsweise ordentliche Kündigung der Beklagten vom 13.08.2013, eine fristlose Kündigung der Beklagten vom 26.09.2013 und um eine vorsorgliche ordentliche Kündigung der Beklagten vom 08.10.2013.
Der am 00.00.0000 geborene, ledige und keiner Person zum Unterhalt verpflichtete Kläger ist seit dem 01.04.1996 bei der Beklagten beschäftigt, zuletzt seit 01.12.2008 als Leiter Revision Bereich Corporate Audit zu einem durchschnittlichen Bruttojahresentgelt in Höhe von 100.000,00 € (E 4). Die Beklagte beschäftigt ständig weit mehr als zehn Arbeitnehmer im Sinne des Kündigungsschutzgesetzes. Es ist ein Betriebsrat gebildet.
Am 27.06.2013 wurde beim Kläger eine Leukämie-Erkrankung diagnostiziert. Auf seinen Antrag vom 28.06.2013 wurde der Kläger mit Bescheid vom 03.09.2013 mit einem Grad der Behinderung von 70 als schwerbehinderter Mensch anerkannt.
Die Beklagte verdächtigte den Kläger, vertrauliche Informationen an unberechtigte externe Dritte weitergegeben zu haben. Deshalb wurde dem Kläger am 02.05.2013 mitgeteilt, dass sein dienstlicher Rechner und das dienstliche Mobiltelefon (BlackBerry) einer Untersuchung unterzogen werden sollten. Der Kläger gab den Dienstrechner und sein dienstliches Mobiltelefon heraus und erklärte, dass auf seinem Dienstrechner nichts gefunden werden würde. In der Folge gab der Kläger jeweils auf Aufforderung von Mitarbeitern der Beklagten mehrere Passwörter bekannt. Den Umgang mit den Passwörtern regelt bei der Beklagten das "Security Compendium" unter Ziff. 3 "Zugriffskontrollen" (Bl. 529 der erstinstanzlichen Akte). Mit E-Mail vom 06.05.2013 (Bl. 347 der Berufungsakte) wurde der Kläger aufgefordert, unberechtigte bzw. nicht mehr benötigte Daten zusammen mit Information Security zu bereinigen, was am 14.05.2013 erfolgte. Die Beklagte beauftragte die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft B. mit der computerforensischen Untersuchung des Laptops des Klägers. Diese Untersuchung wurde durch einen am 24.07.2013 an die Beklagte übersandten finalen Bericht abgeschlossen. In der Zwischenzeit stellte die Beklagte weitere Ermittlungen an.
Am 04.06.2013 wurde der Kläger zu verschiedenen gegen ihn erhobenen Vorwürfen angehört. Ihm wurde zu Beginn des Gesprächs mitgeteilt, dass er als Beschuldigter einer Untersuchung geführt werde. Auf den Inhalt des Interviewprotokolls (Bl. 249 der erstinstanzlichen Akte) wird auch hinsichtlich der dort anwesenden Personen Bezug genommen. Es heißt dort u. a.:
"Vorhalt/Frage: Wir haben auf Ihrem Computer eine Aufstellung zu Sonderbetriebsausg...