Entscheidungsstichwort (Thema)
Außerordentliche personenbedingte Kündigung. ordentliche personenbedingte Kündigung. Prognosegrundlage für zu erwartende mehrjährige Freiheitsstrafe vor Erlass eines Strafurteils. Verpflichtung des Arbeitgebers zu Überbrückungsmaßnahmen. Fristlose Kündigung des Arbeitsverhältnisses wegen Inhaftierung des Arbeitnehmers
Leitsatz (amtlich)
1. Der Umstand, dass der Arbeitgeber bei einer Inhaftierung des Arbeitnehmers von seiner Pflicht zur Vergütung des Arbeitnehmers befreit ist, führt regelmäßig dazu, dass allein die Inhaftierung keine außerordentliche fristlose personenbedingte Kündigung des Arbeitsverhältnisses rechtfertigt.
2. Die für eine ordentliche personenbedingte Kündigung wegen Inhaftierung erforderliche Prognose, dass der Arbeitnehmer eine mehrjährige Haftstrafe wird verbüßen müssen, setzt weder zwingend voraus, dass im Kündigungszeitpunkt bereits ein entsprechendes Strafurteil ergangen ist, noch, dass der Arbeitnehmer im Kündigungszeitpunkt bereits länger inhaftiert ist.
Normenkette
BGB § 626 Abs. 1
Verfahrensgang
ArbG Stuttgart (Entscheidung vom 09.02.2011; Aktenzeichen 32 Ca 8394/10) |
Nachgehend
Tenor
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Stuttgart vom 09.02.2011 - 32 Ca 8394/10 - abgeändert und zur Klarstellung insgesamt wie folgt neu gefasst:
1. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 12.10.2010 nicht aufgelöst wurde.
2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Kosten des Rechtsstreits tragen die Parteien je zur Hälfte.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, ob ihr Arbeitsverhältnis durch eine von der beklagten Arbeitgeberin ausgesprochene außerordentliche Kündigung mit sofortiger Wirkung oder zumindest durch eine von ihr hilfsweise ausgesprochene ordentliche Kündigung mit Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist aufgelöst wurde. Kern des Streits ist die Frage, ob zum Zeitpunkt der Kündigungen die Prognose gerechtfertigt war, dass der klagende Arbeitnehmer wegen Inhaftierung für eine verhältnismäßig erhebliche Zeit an der Erbringung seiner Arbeitsleistung gehindert sein werde.
Der am 00.00.1971 geborene, verheiratete und zwei Kindern zum Unterhalt verpflichtete Kläger war seit dem 00.00.1997 bei der Beklagten, einem großen Automobilhersteller, als Fahrzeugpolsterer beschäftigt. Er verdiente 3.196,00 EUR brutto monatlich. Der Beschäftigungsbetrieb liegt in S.. Dort beschäftigt die Beklagte regelmäßig weit mehr als zehn Arbeitnehmer in Vollzeit. Ein Betriebsrat ist gebildet.
Am 25.07.2002 führte ein Mitarbeiter in der Funktion eines so genannten Personalberaters in Anwesenheit des Vorgesetzten des Klägers sowie eines Betriebsratsmitglieds ein Gespräch mit dem Kläger. Ausweislich der hierüber von der Beklagten gefertigten Gesprächsnotiz ging es um häufige Verspätungen des Klägers (vgl. zu den Einzelheiten Anlage 7 innerhalb der Anlage A 1 zum Schriftsatz der Beklagten vom 22.12.2010, Bl. 50 bis 51 ArbG-Akte). Am 12.12.2002 fand ein entsprechendes zweites Gespräch zu den wieder aufgetretenen Verspätungen des Klägers statt, in dessen Rahmen der Kläger laut Gesprächsnotiz mündlich abgemahnt wurde (vgl. Anlage 7 innerhalb der Anlage A 1 zum Schriftsatz der Beklagten vom 22.12.2010, Bl. 52 bis 53 ArbG-Akte). Am 22.03.2005 kam es wieder zu einem Gespräch mehrerer führender Mitarbeiter der Beklagten mit dem Kläger in Anwesenheit eines Betriebsratsmitglieds. Nunmehr ging es um die Höhe der krankheitsbedingten Fehlzeiten des Klägers. Die Beklagte stellte dem Kläger nach diesem Gespräch mit Schreiben vom selben Tag eine krankheitsbedingten Kündigung als mögliche Konsequenz einer weiteren negativen Entwicklung seiner Fehlzeiten in Aussicht (vgl. Anlage 7 innerhalb der Anlage A 1 zum Schriftsatz der Beklagten vom 22.12.2010, Bl. 54 ArbG-Akte).
Vom 12.03.2008 bis zum 10.04.2008 war der Kläger wegen des Verdachts eines Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz (BtMG) in Untersuchungshaft und konnte in dieser Zeit seine Arbeitsleistung bei der Beklagten nicht erbringen. Im Zuge dieser Ermittlungen kam es am 12.03.2008 zu einer kriminalpolizeilichen Durchsuchung auch der privat belegten Behältnisse des Klägers im Betrieb der Beklagten (vgl. interne Mitteilung der Beklagten vom 12.03.2008, Anlage 7 innerhalb der Anlage A 1 zum Schriftsatz der Beklagten vom 22.12.2010, Bl. 55 ArbG-Akte). Während des entsprechenden Ermittlungs- und Strafverfahrens initiierte die Beklagte weitere Gespräche und Gesprächsversuche mit dem Kläger, die aus ihrer Sicht von einem unkooperativen Verhalten des Klägers geprägt waren. Die Beklagte vermisste insbesondere ausreichende Informationen über den Verlauf und Inhalt des strafrechtlichen Verfahrens. Sie erfuhr vom Kläger unter anderem, dass dieser nicht mit Rauschgift gehandelt, sondern dieses besessen und für den Eigengebrauch verwendet hatte (vgl. Gesprächsnotizen...