Entscheidungsstichwort (Thema)

Rechtswidriger Eingriff in dienstzeitabhängige nichterdiente Zuwachsraten durch Neuordnung der betrieblichen Versorgungsansprüche. Feststellungsklage der Arbeitnehmerin bei unzureichenden Darlegungen der Arbeitgeberin zu sachlich angemessenen und verhältnismäßigen Gründen für den Eingriff in künftige Zuwächse der zugesagten Altersversorgung

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Ob die Neuordnung von Versorgungsansprüchen in zukünftige dienstzeitabhängige Steigerungsbeträge tatsächlich eingreift, kann erst durch eine Vergleichsberechnung zum Zeitpunkt des Eintritts des Versorgungsfalles sicher ermittelt werden; gleichwohl hat die betroffene Arbeitnehmerin ein berechtigtes und begründetes Interesse an der Feststellung ihres Versorgungsanspruchs.

2. Die Neuordnung von Versorgungsansprüchen ist im Hinblick auf Vertrauensschutz und Verhältnismäßigkeit im Rahmen der vom Bundesarbeitsgerichts entwickelten Drei-Stufen-Lehre zu überprüfen; für Eingriffe in dienstzeitabhängige und noch nicht erdiente Zuwachsraten genügen insoweit sachlich-proportionale Gründe.

3. Sachlich-proportional sind willkürfreie, nachvollziehbare und anerkennenswerte Gründe, die auf einer wirtschaftlich ungünstigen Entwicklung des Unternehmens oder einer Fehlentwicklung der betrieblichen Altersversorgung beruhen können, wobei wirtschaftliche Schwierigkeiten nicht das für einen triftigen Grund erforderliche Ausmaß erreicht haben müssen; eine langfristige Substanzgefährdung oder eine dauerhaft unzureichende Eigenkapitalverzinsung ist nicht erforderlich.

4. Zur Rechtfertigung des Eingriffs in zukünftige dienstzeitabhängige Steigerungsbeträge bedarf es weder der sachverständigen Feststellung einer insolvenznahen wirtschaftlichen Notlage noch eines ausgewogenen (die Sanierungslasten angemessen verteilenden) Sanierungsplans; ebenso wenig ist es notwendig, dass Maßnahmen zur Kosteneinsparung ausgeschöpft sind, bevor Eingriffe in zukünftige Zuwächse vorgenommen werden.

5. Allein der allgemeine Hinweis auf wirtschaftliche Schwierigkeiten reicht im Allgemeinen nicht aus, um einen sachlichen Grund für einen Eingriff in nicht erdiente Zuwächse zu belegen; zur Begründung wirtschaftlicher Schwierigkeiten hat die Arbeitgeberin im Einzelnen darzulegen, inwieweit die Eingriffe in die betriebliche Altersversorgung in der eingetretenen wirtschaftlichen Situation verhältnismäßig sind, und dazu sämtliche Maßnahmen darzulegen, die unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Lage der Kosteneinsparung zu dienen bestimmt waren.

6. Der Eingriff in das betriebliche Versorgungswerk muss sich in ein nachvollziehbar auf eine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage ausgerichtetes Gesamtkonzept einpassen; anderweitige Sanierungsmöglichkeiten müssen deshalb zumindest erwogen und ihre Unterlassung muss nachvollziehbar erläutert werden.

 

Normenkette

BetrAVG § 2 Abs. 1, 5 S. 1; ZPO § 138 Abs. 1-2, § 256 Abs. 1

 

Verfahrensgang

ArbG Karlsruhe (Entscheidung vom 18.09.2009; Aktenzeichen 9 Ca 273/09)

 

Nachgehend

BAG (Urteil vom 10.11.2015; Aktenzeichen 3 AZR 390/14)

 

Tenor

  • I.

    Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Karlsruhe vom 18.09.2009 - 9 Ca 273/09 abgeändert:

    Es wird festgestellt, dass der Versorgungsanspruch der Klägerin denjenigen Betrag nicht unterschreiten darf, der nach der Ruhegeldordnung der B. AG in der Fassung vom 30.05.1986 entsprechend der zurückgelegten Beschäftigungsdauer der Klägerin und auf Grundlage des ruhegeldfähigen Einkommens gemäß § 8 der genannten Ruhegeldordnung erdient wurde.

  • II.

    Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens einschließlich der Kosten der Revision.

  • III.

    Für die Beklagte wird die Revision zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über das der Klägerin im Versorgungsfall zustehende betriebliche Ruhegeld.

Die Klägerin ist am 0.0.1954 geboren. Sie begründete zum 01.10.1971 ein Arbeitsverhältnis mit der B. AG, welche 1997 zusammen mit der EVSch AG zur E.AG (i. d. F.: E. AG) fusionierte. Das Arbeitsverhältnis der Klägerin ist nachfolgend auf die Beklagte, ein durch Ausgliederung entstandenes Tochterunternehmen innerhalb des E.-Konzerns, übergegangen. Die Beklagte ist im Konzern zuständig für den Vertrieb von Energie, Energieprodukten und Energiedienstleistungen aller Art sowie sonstiger Produkte und Dienstleistungen.

Bei der B. AG existierte eine Ruhegeldordnung, welche für die Arbeitnehmer Betriebsrentenansprüche vorsah in Form endgehaltsbezogener Versorgungsleistungen im Rahmen eines Gesamtversorgungssystems. Die zwischen der B. AG und ihrem Gesamtbetriebsrat am 30.05.1986 abgeschlossene "Ruhegeldordnung über Gesamtversorgung" (vgl. Vor.A. Bl. 19 bis 55) regelt u. a.:

" § 6

Ruhegeld im Regelfall

1. Das Ruhegeld beträgt mit Erfüllung der Wartezeit (§ 4) 35 v. H. des ruhegeldfähigen Einkommens bei Vollzeitbeschäftigung. Es erhöht sich ab dem vollendeten zehnten ruhegeldfähigen Dienstjahr für jedes weitere Dienstjahr bis zum vollendeten 25. Dienstjahr um 2 v. H. des ruhegeldfähigen Einkommens und von da ab um 1 v. H. d...

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