Entscheidungsstichwort (Thema)
Unwirksamkeit einer von dem einschlägigen Tarifvertrag abweichenden Gesamtbetriebsvereinbarung. Anspruch einer im Betrieb vertretenen Gewerkschaft nach § 23 Abs. 3 BetrVG gegen den Arbeitgeber auf Unterlassung der Durchführung der Gesamtbetriebsvereinbarung
Leitsatz (amtlich)
1. Das Verfahren nach § 23 Abs. 3 BetrVG paßt nicht dazu, dem Arbeitgeber durch die Gewerkschaft einen Verstoß gegen die Tarifsperre des § 77 Abs. 3 BetrVG vorzuwerfen.
2. Ein Arbeitgeber, der eine tarifvertragswidrige und damit gemäß § 77 Abs. 3 BetrVG nichtige Betriebsvereinbarung abschließt, verstößt nicht regelmäßig grob seine Pflichten aus dem Betriebsverfassungsgesetz im Sinne von § 23 Abs. 3 BetrVG; dies jedenfalls dann nicht, wenn die Betriebsvereinbarung im ausdrücklichen Einverständnis mit dem Betriebsrat abgeschlossen worden ist.
Normenkette
GG Art. 9 Abs. 3; BetrVG § 77 Abs. 3
Verfahrensgang
ArbG Berlin (Beschluss vom 13.08.1997; Aktenzeichen 14 BV 16747/97) |
Tenor
I. Auf die Beschwerde wird der am 13. August 1997 verkündete Beschluß des Arbeitsgerichts Berlin – 14 BV 16747/97 – abgeändert:
Die Anträge werden auch im übrigen zurückgewiesen.
II. Die Beteiligte zu 1) hat die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.
III. Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.
Tatbestand
I.
Die Beteiligte zu 1), die Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt, hat mit dem Zentralverband des Deutschen Baugewerbes e.V. und dem Hauptverband der Deutschen Bauindustrie e.V. die für das Baugewerbe in Deutschland maßgebenden Tarifverträge abgeschlossen.
Die Beteiligte zu 2) ist ein Unternehmen mit Betriebsstätten und Niederlassungen in den östlichen Bezirken Berlins und in den neuen Bundesländern, das u.a. im Straßen- und Tiefbau tätig ist und in dem insgesamt etwa 1.500 Arbeitnehmer beschäftigt sind. Sie ist Mitglied des Deutschen Bauindustrieverbandes.
Die Beteiligte zu 2) und der bei ihr bestehende Gesamtbetriebsrat, der Beteiligte zu 3), schlossen am 11.12.1996 die Gesamtbetriebsvereinbarungen 4/96 über die Errichtung von Arbeitszeitkonten und 5/96 über die einheitliche Gestaltung von Lohnnebenleistungen. Diese Gesamtbetriebsvereinbarungen (im folgenden: GBV) enthalten Regelungen, die teilweise von den Regelungen in den Tarifverträgen abweichen. So ist u.a. in der GBV 4/96 vorgesehen, daß in der Zeit vom 01.03. bis 31.12.1997 von allen gewerblichen Arbeitnehmern 130 Arbeitsstunden unentgeltlich über die tarifliche Arbeitszeit hinaus zu leisten sind. Die GBV 5/96 sieht u.a. die Reduzierung des 13. Monatseinkommens um 25 % im Jahre 1996 und um 75 % im Jahre 1997 sowie die Ersetzung der im Jahre 1997 nicht mehr zu zahlenden Auslösung durch eine Regelung über die Übernahme der Kosten für die Unterbringung bei auswärtigen Baustellen in bestimmten Fällen durch das Unternehmen vor.
Mit einem offenen Brief vom 18.12.1997 (richtig: 18.12.1996) an alle Beschäftigten wiesen Geschäftsführung und Gesamtbetriebsrat auf die Notwendigkeit einschneidender Sparmaßnahmen in allen Bereichen, u.a. im Bereich der Personalkosten, hin und überreichten die GBV 4/96 und 5/96 im Wortlaut. Zugleich wurden die Beschäftigten gebeten, eine vorbereitete schriftliche Erklärung des Inhalts abzugeben, daß sie die im Zusammenhang mit den für 1997 notwendigen Sparmaßnahmen getroffenen Betriebsvereinbarungen zur Kenntnis genommen hätten und ihr Einverständnis erklärten, daß diese Betriebsvereinbarungen ab 01.01.1997 auf ihr bestehendes Arbeitsverhältnis angewendet werden würden.
Die Beteiligte zu 1) hat gemeint: Die beiden Gesamtbetriebsvereinbarungen seiten tarifwidrig. Sie, die Beteiligte zu 1), sei als eine im Betrieb vertretene Gewerkschaft im Beschlußverfahren antragsbefugt. Ihr stehe ein sich aus § 23 Abs. 3 BetrVG ergebender Anspruch auf Unterlassung der Durchführung der GBV 4/96 und 5/96 und auf Unterlassung der Einholung der Einverständniserklärungen zu; denn die Beteiligte zu 2) verstoße durch den Abschluß der Gesamtbetriebsvereinbarungen gegen § 77 Abs. 3 BetrVG und gegen das aus Art. 9 Abs. 3 GG folgende Recht jeder Gewerkschaft zur Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen.
Die Beteiligte zu 1) hat, soweit für das Beschwerdeverfahren von Interesse, in der ersten Instanz beantragt,
die beteiligte Antragsgegnerin zu verpflichten, es zu unterlassen, die Gesamtbetriebsvereinbarungen 4/96 und 5/96, abgeschlossen zwischen dem Gesamtbetriebsrat der beteiligten Gesellschaft und der Gesellschaft, vom 11. Dezember 1996 durchzuführen,
unter Androhung eines Ordnungsgeldes in jedem Fall der Zuwiderhandlung, dessen Höhe in das Ermessen des erkennen den Gerichts gestellt werde;
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die Antragsgegnerin zu verurteilen, es zu unterlassen, bei ihr beschäftigte Arbeitnehmer (ausgenommen: leitende Angestellte) aufzufordern, eine Einverständniserklärung des Inhalts abzugeben, daß diese ihr Einverständnis damit erklären, die Betriebsvereinbarungen 4/96 und 5/96 ab dem 01.01.1997 oder zu einem späteren Zeitpunkt auf ihr bestehendes Arbeitsverhältnis anzuwende...