Entscheidungsstichwort (Thema)
Betriebsbedingte Kündigung i.S.d. § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG. Dauerhafter Personalüberhang als Kündigungsgrund. Sozialauswahl bei betriebsbedingten Kündigungen. Kündigungsschutz bei Massenentlassungen
Leitsatz (redaktionell)
1. Eine Kündigung ist im Sinn von § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt, wenn der Bedarf für eine Weiterbeschäftigung des gekündigten Arbeitnehmers im Betrieb voraussichtlich dauerhaft entfallen ist. Dazu müssen im Tätigkeitsbereich des Gekündigten mehr Arbeitnehmer beschäftigt sein, als zur Erledigung der zukünftig anfallenden Arbeiten benötigt werden.
2. Reduziert eine Fluggesellschaft den Bestand ihrer Flugzeuge deutlich ("Ausflottung"), entsteht ein dauerhafter Personalüberhang. Dadurch können betriebsbedingte Kündigungen erforderlich sein.
3. Nimmt der Arbeitgeber die Auswahl zu kündigenden Beschäftigten bezogen auf die Beschäftigungsgruppen vor und gewichtet dabei die Kriterien des § 1 Absatz 3 Satz 1 KSchG in zulässiger Weise und ohne Überschreitung seines Beurteilungsspielraums in einem Punktesystem, ist die Sozialauswahl nicht zu beanstanden.
4. Der in § 17 KSchG geregelte besondere Kündigungsschutz bei Massenentlassungen unterfällt in zwei getrennt durchzuführende Verfahren mit jeweils eigenen Wirksamkeitsvoraussetzungen, nämlich die in § 17 Absatz 2 KSchG normierte Pflicht zur Konsultation des Betriebsrats einerseits und die in § 17 Absatz 1, Absatz 3 KSchG geregelte Anzeigepflicht gegenüber der Agentur für Arbeit andererseits.
Normenkette
KSchG § 1 Abs. 2 Sätze 1, 3, Abs. 3 S. 1, § 17; TV PV Nr. 3 v. 07.02.2018 §§ 57, 62
Verfahrensgang
ArbG Cottbus (Entscheidung vom 14.09.2021; Aktenzeichen 3 Ca 48/21) |
Tenor
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Cottbus vom 14. September 2021 - 3 Ca 48/21 abgeändert.
Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kosten des Rechtsstreits trägt der Kläger.
III. Der Gebührenwert für das Berufungsverfahren wird auf ... EUR festgesetzt.
IV. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten in der Berufungsinstanz noch über die Wirksamkeit einer ordentlichen betriebsbedingten Kündigung, die vorläufige Weiterbeschäftigung des Klägers und den Anspruch auf Erteilung eines Zwischenzeugnisses.
Die Beklagte betreibt eine europaweit operierende Fluggesellschaft. Sie stellt keine langfristig gültigen Flugpläne auf, sondern orientiert sich kurzfristig und flexibel an der Nachfrage an bestimmten Flügen. Als einzige Stationen in Deutschland betrieb sie bis längstens zum 6. November 2020 die 2018 eröffnete Station T. und die Station S.. Seit dem 1. November 2020 betreibt sie allein die Station am Flughafen B.. Dieser Station waren im November 2020 insgesamt 1.482 Beschäftigten des fliegenden Personals zugeordnet.
Der am ... 1978 geborene Kläger ist nach Maßgabe des schriftlichen Arbeitsvertrages vom 10. Mai 2018 seit dem 29. Mai 2018 als Flugkapitän, zuletzt an der Station Flughafen B. beschäftigt. Zuletzt bezog er eine Bruttomonatsvergütung in Höhe von durchschnittlich ... Euro.
Für die Station B. ist nach Maßgabe des Tarifvertrages Personalvertretung Nr. 3 für das Cockpit- und Kabinenpersonal von E. für das fliegende Personal von diesen eine Personalvertretung (im Folgenden: PV) gewählt worden.
Seit dem 1. April 2020 wurde aufgrund mehrerer Betriebsvereinbarungen mehrfach und zuletzt bis zum 30. Juni 2021 verlängerte Kurzarbeit für die Beschäftigten des fliegenden Personals der Stationen T. und S. beziehungsweise später B. durchgeführt.
Seit Juni 2020 plante die Beklagte europaweite organisatorische Maßnahmen, welche von einem Steuerungskomitee ("Steering Committee") bestätigt wurden. Danach war vorgesehen, die Anzahl von 34 an der Station B. stationierten Flugzeugen ("Lines of Flying") um 16 auf 18 zu verringern und das dort stationierte fliegende Personal mit 1.416,4 Vollzeitäquivalenten (im Folgenden: VZÄ) um 822 VZÄ zu verringern. Hierüber unterrichtete die Beklagte die PV mit Schreiben vom 30. Juni 2020, in dem die Planung eines Personalabbaus von bis zu 738 Beschäftigten mitgeteilt wurde und das auch der Aufforderung zur Aufnahme von Interessenausgleichsverhandlungen und des Konsultationsverfahrens nach § 17 Absatz 2 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) dienen sollte.
Die Beklagte verhandelte, zeitweise unter Hinzuziehung eines Mediators, in der Folgezeit mit der PV über die Vermeidung von Entlassungen, einen Interessenausgleich und einen Sozialplan, auch über Vorschläge der PV hierzu. Am 14. Oktober 2020 einigte man sich auf wesentliche Eckpunkte, am 21. Oktober 2020 kam es zum Abschluss eines Interessenausgleichs und eines Sozialplan. Im Interessenausgleich wurde unter anderem vereinbart, die Anzahl der an den Stationen T. und S. und sodann am B. stationierten Flugzeuge ab Dezember 2020 um 16 auf 18 zu verringern, ab November/Dezember 2020 bis zu 418 Beschäftigte des fliegenden Personals, darunter 76 First Officer (Senior First Officer, First Officer, Second Officer), zu en...