Entscheidungsstichwort (Thema)
Fahrtzeiten als vergütungspflichtige Arbeitszeit. Unverhältnismäßigkeit bei Kumulierung von Wegezeiten. Unbezahlte Wegstrecke von mehr als einer Stunde am Tag als disproportionales Verhältnis. Verschlechterungsverbot durch vertragliche Absprachen möglich
Leitsatz (amtlich)
1. Die Regelung in einer Betriebsvereinbarung, die unbezahlte Wegezeiten zu Lasten der Beschäftigten kumuliert, indem sie den nach verpflichtender Aufsuchung der Betriebsstätte zurückzulegenden Weg zu wechselnden auswärtigen Einsatzorten bis zu arbeitstäglich eineinviertel Stunden vergütungsfrei stellt, greift unverhältnismäßig in das arbeitsvertragliche Synallagma ein und ist daher unwirksam.
2. Die Unverhältnismäßigkeit folgt dabei daraus, dass für die betroffenen Arbeitnehmer zu den resultierenden erheblichen unbezahlten Wegezeiten zwischen Betriebsstätte und Einsatzort stets die nach allgemeinen Grundsätzen unbezahlte Wegezeit zwischen Wohnort und Betriebsstätte noch hinzukommt und diesbezüglich die Interessen der Arbeitnehmer hinsichtlich der Relation von vergütungspflichtiger Arbeitszeit und durch die Betriebsvereinbarung vergütungsfrei gestellter Arbeitszeit in der Betriebsvereinbarung nicht hinreichend Berücksichtigung finden und zugleich unverhältnismäßig lange unbezahlte Wegezeiten drohen.
Normenkette
BetrVG § 4 Abs. 1, §§ 75, 77; ZPO § 253 Abs. 2 Nr. 2; BGB § 611a
Verfahrensgang
ArbG Eberswalde (Entscheidung vom 18.09.2019; Aktenzeichen 5 Ca 176/19) |
Nachgehend
Tenor
I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Eberswalde vom 18. September 2019 - 5 Ca 176/19 - abgeändert und die Beklagte verurteilt, dem Arbeitszeitkonto des Klägers in der Rubrik "bis Vormonat" 553,25 Stunden gutzuschreiben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits erster und zweiter Instanz zu tragen.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um Gutschriften auf das Arbeitszeitkonto für Fahrzeiten von der Betriebsstätte zum wechselnden Einsatzort.
Die Beklagte beschäftigt den Kläger jedenfalls seit dem 2005 als Prüftechniker im Außendienst von ihrer Betriebsstätte in Bernau aus. Soweit er auf Baustellen mit täglicher Heimfahrt zum Einsatz kommt, nimmt der Kläger - jedenfalls in der Zeit zwischen Januar 2016 bis Dezember 2018 - seine Arbeit in der Betriebsstätte auf und beendet sie auch dort. Morgens fährt der Kläger zur Betriebsstätte, füllt dort Unterlagen aus und lädt Arbeits- und Prüfmittel in das Fahrzeug und fährt dann als Beifahrer zum ersten Einsatzort.
In dem von der Beklagten als Allgemeine Geschäftsbedingungen gestellten schriftlichen Arbeitsvertrag vom 22. März 2005 heißt es:
"§ 1 Präambel
Das Arbeitsverhältnis wird auf der Grundlage der jeweils gültigen gesetzlichen Bestimmungen und betrieblichen Vereinbarungen, in Anlehnung an den Tarifvertrag des Deutschen Bauhauptgewerbes geschlossen. ...
§ 5 Vergütung
Die Vergütung erfolgt auf der Grundlage eines Haustarifes, der sich an den Tarifvertrag des Deutschen Bauhauptgewerbes anlehnt.
Der Arbeitnehmer erhält einen Grundlohn in Höhe von 11,75 Euro pro Arbeitsstunde.
Das monatliche Entgelt wird auf max. 169 Stunden begrenzt. Darüber hinausgehende Arbeitsstunden würden bis zur 20. Stunde grundsätzlich dem Arbeitszeit-/Entgeltkonto gutgeschrieben. Darüber hinausgehende Sunden könnten im Folgemonat ausgezahlt werden."
Den Stundenlohnsatz haben die Parteien später einvernehmlich erhöht.
Für den Betrieb der Beklagten mit Sitz in Friedeburg ist ein Betriebsrat gebildet. Die Mitarbeiter der Betriebsstätte Bernau nehmen - jedenfalls seit den Wahlen zu dem in 2008 amtierenden Betriebsrat - an den Betriebsratswahlen teil.
In einer mit "Handlungsabrede" überschriebenen Vereinbarung "zwischen der Geschäftsführung und dem Betriebsrat gültig ab dem 1. April 2008" (im Folgenden: HA 2008) heißt es
"Fahrzeitenregelung:
... bei Prüftechnik - tägliche Anfahrt:
Die Anfahrt zur Baustelle ab Firmengelände zählt nach 1,25 Stunden als Arbeitszeit. Die Rückfahrtzeit gilt vollständig als Arbeitszeit.
Beträgt die Arbeitszeit incl. Rückfahrt weniger als 8 Stunden, so wird aus der Anfahrzeit die Stundenzahl bis auf 8 aufgefüllt."
Die Vereinbarung ist auf den 31. März 2008 datiert und von dem Betriebsratsvorsitzenden und einem Geschäftsführer unterzeichnet.
In der schriftlichen "Ergänzung zum Arbeitsvertrag vom 22.03.2005" - wiederum in der Form von der Beklagten gestellter Allgemeiner Geschäftsbedingungen am 18. Juli 2016 abgeschlossen - vereinbarten die Parteien eine regelmäßige monatliche Arbeitszeit von 173,33 Stunden. Weiter heißt es in der Vereinbarung:
"Nach diesem ’Arbeitszeitmodell 173,33‚ gelangen grundsätzlich monatlich 173,33 Stunden zur Auszahlung. Alle darüberhinausgehend geleitsteten Arbeitsstunden werden dem Arbeitszeitkonto des Arbeitnehmers zugeführt (max. +340 Stunden) ...
In einer als "Betriebsvereinbarung" bezeichneten Vereinbarung vom 2. März 2018, unterzeichnet für die Geschäftsleitung und de...