Entscheidungsstichwort (Thema)
Unwirksamkeit einer Massenentlassungsanzeige wegen unrichtiger Darstellung des Standes der Beratungen mit dem Betriebsrat. Wirksamkeit der Freistellung oder Kündigung von Arbeitnehmern vor Abschluss des Konsultationsverfahrens gemäß § 17 Abs. 2 KSchG
Leitsatz (amtlich)
1. Arbeitgeber*innen dürfen eine Entscheidung oder eine Maßnahme, die sie unmittelbar zwingt, eine Massentlassung vorzunehmen, erst treffen, wenn das Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG abgeschlossen ist. Eine derartige Entscheidung oder Maßnahme kann auch die unwiderrufliche Freistellung oder Kündigung anderer Arbeitnehmer*innen sein, die für die Fortführung des Betriebs notwendig sind.
2. Eine Massenentlassungsanzeige ist unwirksam, wenn der oder die Arbeitgeber*in gegenüber der Agentur für Arbeit den Stand der Beratungen mit dem Betriebsrat irreführend darstellt. Eine irreführende Darstellung ist ua. gegeben, wenn er oder sie angibt, die beabsichtigte Massenentlassung mit dem Betriebsrat beraten zu haben, obwohl tatsächlich nur ein Austausch über die erforderlichen Informationen stattgefunden hat.
Normenkette
RL 98/59/EG Art. 1 Abs. 1 Buchst. b), Art. 2; KSchG § 17 Abs. 1 S. 1, Abs. 2, 3 Sätze 2-3; TV Personalvertretung Kabine Air Berlin
Verfahrensgang
ArbG Berlin (Entscheidung vom 03.12.2018; Aktenzeichen 23 Ca 2646/18) |
Tenor
I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 3. Dezember 2018 - 23 Ca 2646/18 - abgeändert:
Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung des Beklagten vom 27. Januar 2018 nicht aufgelöst worden ist.
II. Die Kosten des Rechtsstreits hat der Beklagte zu tragen.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten im Berufungsverfahren noch über die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung wegen Betriebsstilllegung und hilfsweise über einen Anspruch auf Nachteilsausgleich.
Der Beklagte ist der Insolvenzverwalter über das Vermögen der A. Berlin PLC Co. Luftverkehrs KG (im Folgenden: Schuldnerin).
Die am ..... 1971 geborene Klägerin (im Folgenden: klagende Partei) war seit dem 22. März 1999 als Flugbegleiterin zunächst bei der LTU Lufttransport-Unternehmen GmbH, später LTU International Airways GmbH (im Folgenden: LTU) und infolge der vollständigen Verschmelzung der LTU auf die Schuldnerin ab dem 1. April 2011 bei dieser gegen eine monatliche Bruttovergütung von zuletzt .... Euro beschäftigt und in Düsseldorf stationiert.
Bei der Schuldnerin handelte es sich bis zu ihrer Insolvenz im August 2017 um die zweitgrößte deutsche Fluggesellschaft mit Sitz in Berlin, die unter ihrem Luftverkehrsbetreiberzeugnis (Air Operator Certificate, AOC) von ihren Drehkreuzen Düsseldorf und Berlin-Tegel hauptsächlich Ziele in ganz Europa, Nordafrika und Israel sowie interkontinental Städte in Nord- und Mittelamerika anflog. Außerdem war sie bzw. ihre Komplementärin, die Air Berlin PLC, alleinige Eigentümerin der österreichischen Ferienfluggesellschaft N. Luftfahrt GmbH (im Folgenden: N.) mit Sitz in Wien sowie der Luftfahrtgesellschaft W. mbH (im Folgenden: LGW) mit Sitz in Dortmund. Das fliegende Personal der Schuldnerin war in Deutschland an den Flughäfen Berlin-Tegel, Düsseldorf, München, Frankfurt, Nürnberg, Stuttgart, Leipzig, Köln, Hamburg und Paderborn stationiert.
Für den Flugbetrieb nutzte die Schuldnerin ausschließlich geleaste Flugzeuge. Nach den Angaben des Beklagten hatte sie im August 2017 insgesamt etwa 151 und am Stichtag 12. Oktober 2017 insgesamt 132 Flugzeuge im Einsatz. Außerdem verfügte sie über die dafür erforderlichen Slots. Slots (Zeitnischen) berechtigen ein Luftfahrtunternehmen an einem Flughafen, dessen Kapazitäten eine Koordinierung erforderlich machen (koordinierter Flughafen), an einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Zeit zu starten oder zu landen.
Im August 2017 beschäftigte die Schuldnerin insgesamt 6.121 Arbeitnehmer*innen (im Folgenden: Beschäftigte), davon 1.318 im Bereich Cockpit, 3.362 im Bereich Kabine und 1.441 am Boden. Das Bodenpersonal, darunter auch die für den Erhalt der AOC unverzichtbaren verantwortlichen Personen ("nominated persons"), arbeitete zum ganz überwiegenden Teil in der Firmenzentrale in Berlin, wo auch die Flugpläne erstellt und der Flugbetrieb geleitet wurden. Für das Kabinenpersonal war nach § 117 Abs. 2 BetrVG auf der Grundlage des zwischen der Schuldnerin und der Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) geschossenen Tarifvertrags Personalvertretung für das Kabinenpersonal der A. Berlin PLC & Co. Luftverkehrs KG vom 7. Juni 2016 (im Folgenden: TV PV Kabine) eine Personalvertretung (im Folgenden: PV Kabine) mit offiziellem Sitz in Berlin gebildet. Für das Cockpitpersonal bestand auf der Grundlage eines mit der Vereinigung Cockpit e.V. abgeschlossenen Tarifvertrags Personalvertretung für das Cockpitpersonal der A. Berlin PLC & Co. Luftverkehrs KG vom 16. April 2012 (im Folgenden: TV PV Cockpit) eine gesonderte Personalvertretung (im Folgenden: PV Cockpit...