Entscheidungsstichwort (Thema)
Unwirksame Kündigung bei Verstoß gegen Konsultationspflichten der Arbeitgeberin zur beabsichtigen Massenentlassung. Einbeziehung einer Besitzstandszulage bei der Berechnung der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall
Leitsatz (amtlich)
1. Nach § 17 Abs. 2 KSchG muss die Arbeitgeberin oder der Arbeitgeber mit dem Betriebsrat eine beabsichtige Massenentlassung vor deren Durchführung ernsthaft und ergebnisoffen beraten, zumindest aber derartige Beratungen anbieten.
Dabei reicht es nicht aus, wenn sich das Beratungsangebot auf die Milderung der Auswirkungen der Entlassungen beschränkt. Es muss sich auch auf die Möglichkeiten der Vermeidung oder Beschränkung der Entlassungen beziehen (im Anschluss an LAG Berlin-Brandenburg vom 11.12.2015 - 9 Sa 1397/15 - und vom 20.01.2016 - 24 Sa 1261/15 u. 24 Sa 1667/15).
2. Die endgültige Entscheidung, eine beabsichtigte Massenentlassung durchzuführen und die Kündigungen auszusprechen, darf die Arbeitgeberin oder der Arbeitgeber erst treffen, wenn das Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG abgeschlossen ist (vgl. EuGH vom 10.09.2009 - C-44/08 - Keskusliitto).
3. Berät die Arbeitgeberin oder der Arbeitgeber eine beabsichtigte Massenentlassung mit einer Verhandlungskommission des Betriebsrats oder einzelnen Betriebsratsmitgliedern, ist das Konsultationsverfahren frühestens abgeschlossen, wenn der Betriebsrat nach den Beratungen als Gremium Gelegenheit hatte, eine abschließende Stellungnahme abzugeben. Hierfür ist dem Betriebsrat eine angemessene Frist einzuräumen.
4. Hat der Betriebsrat keine abschließende Stellungnahme abgegeben, sondern gerügt, die ihm gegebenen Informationen seien für eine Stellungnahme nicht ausreichend, hat die Arbeitgeberin oder der Arbeitgeber dies der Agentur für Arbeit im Rahmen der Massenentlassungsanzeige nach § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG mitzuteilen (im Anschluss an LAG Berlin-Brandenburg vom 20.01.2016 - 24 Sa 1261/15 und 24 Sa 1667/15).
5. Zu den Abweichungsmöglichkeiten durch Tarifvertrag vom Entgeltausfallprinzip nach § 4 Abs. 1 EFZG (im Anschluss an LAG Berlin-Brandenburg vom 12.12.2014 - 3 Sa 1427/14).
Leitsatz (redaktionell)
1. Gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG haben Beschäftigte, wenn sie durch Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit an ihrer Arbeitsleistung verhindert wird, ohne dass sie ein Verschulden trifft, einen Anspruch gegen die Arbeitgeberin oder den Arbeitgeber auf Entgeltfortzahlung für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit bis zur Dauer von sechs Wochen. Gemäß § 4 Abs. 1 EFZG ist Beschäftigten für den in § 3 Abs. 1 EFZG bezeichneten Zeitraum das ihnen bei der für sie maßgebenden regelmäßigen Arbeitszeit zustehende Arbeitsentgelt fortzuzahlen.
2. Nach dem im § 4 Abs. 1 EFZG verankerten Entgeltausfallprinzip erhalten Beschäftigte grundsätzlich die volle Vergütung für die ausgefallene regelmäßige Arbeitszeit. Hierzu gehört auch die Besitzstandszulage nach Abschnitt B Teil 2 I. des Überleitungstarifvertrag zum Vergütungstarifvertrages vom 25. Februar 2013 (ÜTV-VTV).
3. Im Rahmen des § 4 Abs. 4 EFZG sind auch Abweichungen zu Lasten des Arbeitnehmers erlaubt. Bei der Gestaltung der Bemessungsgrundlage müssen die Tarifvertragsparteien aber darauf achten, dass sie weder unmittelbar noch mittelbar gegen die anderen, nach § 12 EFZG zwingenden und nicht tarifdispositiven Bestimmungen des EFZG verstoßen.
4. Die Gestaltungsmacht der Tarifvertragsparteien findet dort ihre Grenze, wo der Anspruch auf Entgeltfortzahlung in seiner Substanz angetastet wird. Insbesondere sind die Tarifvertragsparteien an den Grundsatz der vollen Entgeltfortzahlung (100 %) im Krankheitsfall gebunden.
5. Handelt es sich bei einer Besitzstandszulage nicht um eine Zulage für besondere Belastungen oder Erschwernisse, sondern um einen im Synallagma stehenden Bestandteil der Vergütung, der zusammen mit dem tariflichen Monatsgrundentgelt gerade die Gegenleistung für die geschuldete Arbeitstätigkeit bildet, wird durch die Nichtberücksichtigung der Besitzstandszulage bei der Entgeltfortzahlung der Anspruch auf Entgeltfortzahlung in seiner Substanz angetastet und damit der Grundsatz der vollen Entgeltfortzahlung nicht mehr gewahrt.
Normenkette
KSchG § 17 Abs. 2-3; EFZG § 4 Abs. 1, 4; BGB § 134; KSchG § 17 Abs. 2 Sätze 1-2, Abs. 3 Sätze 2-3; EFZG § 12
Verfahrensgang
ArbG Berlin (Entscheidung vom 30.07.2015; Aktenzeichen 58 Ca 1251/15) |
Tenor
I. Auf die Berufung der Klägerin wird - unter Zurückweisung der Berufung der Beklagten - das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 30. Juli 2015 - 58 Ca 1251/15 -, soweit die Klage abgewiesen worden ist, abgeändert:
Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien weder durch die Kündigung der Beklagten vom 29. Januar 2015 noch durch die Kündigung der Beklagten vom 27. Juni 2015 aufgelöst worden ist.
II. Die Kosten des Rechtsstreits hat die Beklagte zu tragen.
III. Die Revision wird insgesamt zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die zutreffende Berechnung der der Klägerin zustehenden Entgeltfortzahlung im Krankhei...