Entscheidungsstichwort (Thema)

Massenentlassungsanzeige und Konsultationsverfahren im Anschluss an Interessenausgleichsverhandlungen und Einigungsstellenspruch. Betriebsbedingte Kündigung bei Betriebsstillegung nach Auftragsentzug durch die allein stimmberechtigte Gesellschafterin der Arbeitgeberin

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Die Stilllegung des gesamten Betriebs oder eines Betriebsteils durch die Arbeitgeberin gehört zu den dringenden betrieblichen Erfordernissen im Sinne des § 1 Abs. 2 Satz 1 Alt. 3 KSchG, die einen Grund zur sozialen Rechtfertigung einer Kündigung abgeben können.

2. Für eine beschlossene und durchgeführte unternehmerische Organisationsentscheidung spricht die Vermutung, dass sie aus sachlichen und nicht zuletzt wirtschaftlichen Gründen getroffen wurde und nicht auf Rechtsmissbrauch beruht. Im Prozess hat die Arbeitnehmerin Umstände darzulegen und erforderlichenfalls zu beweisen, aus denen sich ergibt, dass die getroffene Organisationsmaßnahme offenbar unsachlich, unvernünftig oder willkürlich ist.

3. Gemäß Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG ist es der Arbeitgeberin überlassen, wie sie ihr Unternehmen führt, ob sie es überhaupt weiterführt und ob sie ihre Betätigungsfelder einschränkt. Grundsätzlich kann die Arbeitgeberin auch Umstrukturierungen allein zum Zwecke der Ertragssteigerung vornehmen, so dass sich ein Rechtsmissbrauch auch nicht allein aus einer engen wirtschaftlichen Verflechtung der an der Auftrags(Neu)Vergabe beteiligten Unternehmen ergibt.

4. Das Kündigungsschutzgesetz ist nicht konzernbezogen. Die Arbeitgeberin ist vor Ausspruch einer betriebsbedingten Kündigung grundsätzlich nicht verpflichtet, die Arbeitnehmerin in einem Betrieb eines anderen Unternehmens unterzubringen.

5. Wegen der Übereinstimmung der Pflichten kann die Arbeitgeberin die Verfahren nach den §§ 111 ff. BetrVG, § 102 BetrVG und § 17 Abs. 2 KSchG grundsätzlich miteinander verbinden, soweit dieselbe Arbeitnehmervertretung zu beteiligen ist und die gegenüber dieser nach den verschiedenen Vorschriften bestehenden Verpflichtungen übereinstimmen. Bei einer ordnungsgemäßen Durchführung des Verfahrens nach §§ 111 ff. BetrVG wird im Regelfall auch den Anforderungen des § 17 Abs. 2 KSchG genügt, so dass das Vorschalten der Interessenausgleichsverhandlungen den Zweck der “rechtzeitigen„ Unterrichtung auch nach § 17 Abs. 2 KSchG, die Möglichkeiten zur Vermeidung oder Beschränkung von Massenentlassungen zu beraten, nicht beeinträchtigt.

6. Fehlt es an einer abschließenden Stellungnahme des Betriebsrates, kann die Arbeitgeberin nach § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG verfahren und zwei Wochen nach vollständiger Unterrichtung des Betriebsrats gemäß § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG unter Darlegung des Stands der Beratung Massenentlassungsanzeige erstatten.

 

Normenkette

KSchG §§ 1, 17; BetrVG § 102; BEEG § 18; BetrVG §§ 111 ff.; GG Art. 12 Abs. 1 S. 1; KSchG § 1 Abs. 2 S. 1 3. Alt., § 17 Abs. 2-3; BetrVG § 111 Sätze 1, 3 Nr. 1, § 112; BGB § 242

 

Verfahrensgang

ArbG Berlin (Entscheidung vom 23.07.2015; Aktenzeichen 38 Ca 3626/15)

 

Tenor

I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 23. Juli 2015 - 38 Ca 3626/15 - wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

II. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung, hilfsweise über die Zahlung eines Nachteilsausgleichs.

Die am ..... 1970 geborene Klägerin war aufgrund eines Arbeitsvertrages seit dem 25. August 2003 bei der Beklagten bzw. ihrer Rechtsvorgängerin als "Mitarbeiterin Fluggastabfertigung" am Flughafen Berlin-Tegel zu einem monatlichen Bruttogehalt in Höhe von zuletzt 980,00 € bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 18,2 Stunden beschäftigt. Die Klägerin ist geschieden und für drei Kinder unterhaltspflichtig. Das dritte Kind der Klägerin wurde am .... 2013 geboren und die Klägerin befand sich in der Folgezeit in Elternzeit.

Die Beklagte erbrachte seit Mai 2012 verschiedene Passagierabfertigungsdienstleistungen auf dem Flughafen Schönefeld im Bundesland Brandenburg und auf dem Flughafen Berlin-Tegel. Die Beklagte hatte den Betrieb Tegel/Schönefeld von der G. Berlin GmbH & Co. KG (im Folgenden: GGB) übernommen. Die GGB ist die einzige Kommanditistin der Beklagten. Die Kommanditanteile der GGB werden von einem Unternehmen der W.-Gruppe gehalten. Die Gesellschafter der Komplementärinnen der Beklagten (A. P. S. Berlin Beteiligungs GmbH) und der GGB (G Berlin Beteiligungs GmbH) sind jeweils natürliche Personen. Die GGB ist die alleinige Auftraggeberin der Beklagten.

In der ersten Hälfte des Jahres 2014 kündigte die GGB gegenüber der Beklagten verschiedene Dienstleistungsaufträge. Ab Mai/Juni 2014 fanden Verhandlungen über einen Interessenausgleich und Sozialplan statt und es wurde eine Einigungsstelle eingerichtet. Am 3. September 2014 beschloss die Einigungsstelle durch Spruch einen Sozialplan.

Im Juni 2014 wurde der Bereich der Passagierabfertigung in Schönefeld vom Betrieb der Beklagten abgespalten und der Betriebsteil gin...

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