Entscheidungsstichwort (Thema)
Benachteiligung einer schwerbehinderten Bankangestellten durch Vorruhestandsvereinbarung bis zum frühest möglichen Renteneintrittszeitpunkt
Leitsatz (amtlich)
1. § 3 Abs. 1 Satz 1 AGG setzt eine Ungleichbehandlung, die für den Betroffenen einen eindeutigen Nachteil bewirkt, voraus (vgl. BAG 17. November 2015 - 1 AZR 938/13, Rn. 22; 25. Februar 2010 - 6 AZR 911/08, Rn. 25). Das ist hier der Fall. Wäre die Klägerin nicht schwerbehindert, würde das Vorruhestandsverhältnis nicht am 30. November 2015, sondern erst am 30. November 2017 enden.
2. Die Klägerin befindet sich auch in einer mit einem nicht schwerbehinderten Menschen vergleichbaren Situation. Die Vorruhestandsleistungen haben bei den Personen, denen die Beklagte sie gewährt, die Funktion einer Überbrückung bis zur möglichen Inanspruchnahme einer Altersrente.
Die Bankbediensteten der Beklagten sollen wirtschaftlich so lange abgesichert werden, bis sie das Alter erreichen, ab dem Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung gewährt werden (vgl. BAG 15. Februar 2011 - 9 AZR 750/09, Rn. 34).
3. Der finanzielle Vorteil, der einer schwerbehinderten Arbeitnehmerin aus dem früheren Rentenbeginn erwächst, hat nicht zur Folge, dass ihre Situation eine andere ist, als die eines nicht schwerbehinderten Arbeitnehmers (vgl. EuGH 6. Dezember 2012 - C-152/11 - [Odar] Rn. 62; BAG 12. November 2013 - 9 AZR 484/12, Rn. 23; 17. November 2015 - 1 AZR 938/13, Rn. 24).
4. Mit dem Regelungszweck ist es nicht zu vereinbaren, wenn die Anknüpfung an das gesetzliche Rentenversicherungsrecht dazu führt, dass schwerbehinderte und nicht schwerbehinderte Menschen nicht in gleicher Weise wirtschaftlich abgesichert werden (vgl. BAG 16. Dezember 2008 - 9 AZR 985/07, Rn. 58; 15. Februar 2011 - 9 AZR 584/09, Rn. 46).
4. Für den Unterschied bei der Berechnung der Vorruhestandsdauer fehlt es an einem zulässigen Differenzierungsgrund.
5. Rechtsfolge der unzulässigen Ungleichbehandlung ist, dass die Klägerin von der Beklagten verlangen kann, wie eine nicht schwerbehinderte Arbeitnehmerin behandelt zu werden (vgl. BAG 15. Februar 2011 - 9 AZR 548/09, Rn. 53).
6. Zum Entschädigungsanspruch (hier bejaht) und den Voraussetzungen des Laufs der Ausschlussfrist nach § 15 Abs. 4 AGG.
Normenkette
SGB IX § 81 Abs. 2; AGG §§ 1, 3, 7; SGB VI §§ 236, 236a; AGG § 7 Abs. 1, § 3 Abs. 1 S. 1, § 15 Abs. 2, 1 S. 1, Abs. 4; SGB IX § 81 Abs. 2 Sätze 1-2
Verfahrensgang
ArbG Berlin (Entscheidung vom 11.08.2016; Aktenzeichen 34 Ca 15510/14) |
Nachgehend
Tenor
1. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 11. August 2016 - 34 Ca 15510/14 - unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen teilweise abgeändert.
a. Es wird festgestellt, dass das Vorruhestandsverhältnis der Parteien über den 30. November 2015 hinaus bis zum 30. November 2017 fortbesteht.
b. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin eine Entschädigung in Höhe von 4.600 Euro zu zahlen.
2. Von den Kosten des Rechtsstreits haben die Beklagte 60 vH und die Klägerin 40 vH zu tragen.
3. Die Revision wird für die Beklagte zugelassen. Im Übrigen wird die Revision nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, wann das Vorruhestandsverhältnis der Klägerin endet sowie ua über Entschädigungs- und Unterlassungsansprüche.
Die im November 1954 geborene Klägerin ist schwerbehindert. Die Beklagte schloss am 24. Juni 2009 mit dem Konzernbetriebsrat einen Interessenausgleich und einen Maßnahmensozialplan. Darin heißt es ua:
"B Vorruhestandsvereinbarungen
Vorruhestandsvereinbarungen können einzelvertraglich zwischen der Bank und Mitarbeitern ab Vollendung des 55. Lebensjahres getroffen werden. Voraussetzung ist, dass für diese Mitarbeiter auch nach entsprechenden Weiterbildungsmaßnahmen kein geeigneter Arbeitsplatz gefunden werden kann. Weitere Voraussetzung ist, dass die Dauer des Vorruhestandes 1/3 der zu Beginn des Vorruhestands erreichten ununterbrochenen Konzernzugehörigkeit grundsätzlich nicht überschreitet...
Die Vorruhestandsbezüge richten sich dabei nach der individuellen Situation, insbesondere der Laufzeit des Vorruhestandes. Als Orientierungswert dient für Mitarbeiter mit einem Bruttomonatsgehalt (ohne VL, ohne Zulagen) von bis zu Euro 3000,- ein Vorruhestandsgeld von mindestens brutto 75 % des letzten Monatsgehalts. Bei Mitarbeitern mit einem höheren Bruttomonatsgehalt beträgt der Orientierungswert mindestens brutto 70 % des letzten Monatsgehalts..."
Mit Schreiben vom 3. August 2009 schrieb die Klägerin an die Beklagte:
"Vorruhestand aus gesundheitlichen Gründen erwünscht, weil durch eine chronische Autoimmunerkrankung sich meine Gesundheit ständig verschlechtert und häufige Erkrankungen die Folge sind. In diesem Jahr bereits an 68 Tagen erkrankt."
Die Anfrage stand im Zusammenhang mit einer Abfrage gewünschter Tätigkeitsbereiche und Einsatzorte, die nicht nur an die von einem Arbeitsplatzverlust bzw. einer Versetzung unmittelbar betroffenen Belegscha...