Entscheidungsstichwort (Thema)
Anrechnung der Sozialplanabfindung auf gesetzlichen Nachteilsausgleichsanspruch. Unbegründete Abfindungsklage bei Verstoß der Arbeitgeberin gegen Konsultationspflichten bei Massenentlassungen
Leitsatz (amtlich)
1. Der deutsche Gesetzgeber hat zur Umsetzung der RL 98/59/EG des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen vom 20. Juli 1998 (EG-Massenentlassungsrichtlinie) die §§ 17 ff. KSchG bestimmt.
Eines Rückgriffs auf die §§ 111 ff. BetrVG bedarf es im Rahmen einer europarechtskonformen Umsetzung der EG-Massenentlassungsrichtlinie durch den deutschen Gesetzgeber nur, wenn und soweit durch § 17 KSchG keine ausreichende Umsetzung der EG-Massenentlassungsrichtlinie erfolgt ist.
2. Eine ohne Durchführung eines Konsultationsverfahrens iSd. § 17 Abs. 2 KSchG im Rahmen einer Massenentlassung ausgesprochene Kündigung ist - unabhängig von dem Erfordernis einer ordnungsgemäßen Anzeige bei der Agentur für Arbeit nach § 17 Abs. 1 iVm. Abs. 3 KSchG - wegen Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot iSv. § 134 BGB rechtsunwirksam (BAG 21. März 2013 - 2 AZR 60/12 - BAGE 144, 366 Rn. 19).
3. Durch die Unwirksamkeit der Kündigung als Rechtsfolge des Verstoßes gegen § 17 Abs. 2 KSchG hat der deutsche Gesetzgeber eine wirksame und abschreckende Sanktion bei einem Verstoß gegen Art. 2 der EG-Massenentlassungsrichtlinie vorgesehen und damit Art. 6 der EG-Massenentlassungsrichtlinie genügt.
4. Art. 6 der EG-Massenentlassungsrichtlinie gebietet es deswegen nicht, von einer vollständigen Verrechnung von Nachteilsausgleichsanspruch und Sozialplanabfindung abzusehen, wenn der Arbeitgeber die Konsultationspflicht aus Art. 2 der EG-Massenentlassungsrichtlinie verletzt hat.
Normenkette
RL 98/59/EG Art. 2, 6; BetrVG §§ 112-113; KSchG § 17; BetrVG § 112 Abs. 1 S. 2, Abs. 2, § 113 Abs. 1-3; KSchG § 17 Abs. 1-3; BGB §§ 134, 362 Abs. 1; EGRL 59/1998 Art. 2 Abs. 1 Fassung: 1998-07-20, Abs. 2 Fassung: 1998-07-20, Art. 6 Fassung: 1998-07-20
Verfahrensgang
ArbG Berlin (Entscheidung vom 10.08.2016; Aktenzeichen 12 Ca 16673/15) |
Nachgehend
Tenor
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 10. August 2016 - 12 Ca 16673/15 - wird auf Kosten des Klägers zurückgewiesen.
II. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begeht von der Beklagten die Zahlung einer Sozialplanabfindung in Höhe von 9.000 EUR.
Der Kläger war unter Anrechnung von Vorbeschäftigungszeiten seit dem 02. September 1991 bei der Beklagten beschäftigt. Im März 2014 beschloss die Beklagte, den Beschäftigungsbetrieb des Klägers in Berlin-K. stillzulegen. Mit Schreiben vom 26. März 2014 unterrichtete die Beklagte den dort errichteten Betriebsrat über die geplante Schließung und verhandelte mit ihm am 08. April 2014 erfolglos über einen Interessenausgleich. Mit Schreiben vom 16. April 2014, hinsichtlich dessen Einzelheiten auf Bl. 66 - 67 d. A. verwiesen wird, übermittelte die Beklagte dem Betriebsrat ein "Anzeige von beabsichtigten anzeigepflichtigen Entlassungen gem. § 17 Abs. 2 KSchG". Hierauf reagierte der Betriebsrat mit einem der Beklagten am 30. April 2014 zugegangenen Schreiben, hinsichtlich dessen Wortlaut auf Bl. 68 - 71 d. A. verwiesen wird. Noch bevor das Arbeitsgericht Berlin auf Antrag der Beklagten mit Beschluss vom 02. Mai 2014 einen Vorsitzenden einer Einigungsstelle mit dem Regelungsgegenstand "Interessenausgleich und Sozialplan für die beabsichtigte Stilllegung der Betriebsstätte Köpenick" bestellt hatte, kündigte die Beklagte die Arbeitsverhältnisse aller im Betrieb Köpenick beschäftigten Mitarbeiter. Am 13. September 2014 schlossen die Betriebsparteien einen Sozialplan, aus dem sich ein Abfindungsanspruch für den Kläger in Höhe von 9.000 EUR ergibt. Im Sozialplan wurde keine Nichtanrechnung der Sozialplanabfindung auf den Nachteilsausgleich vereinbart.
Der Kläger erhob gegen die ihm ausgesprochene Kündigung Kündigungsschutzklage und stellte hilfsweise einen Antrag auf Zahlung eines Nachteilsausgleichs. Die Kündigungsschutzklage nahm der Kläger sodann zurück und verfolgte nur noch den Anspruch auf Zahlung eines Nachteilsausgleichs. Mit Urteil vom 08. September 2015 (7 Sa 870/15) verurteilte das LAG Berlin-Brandenburg die Beklagte zur Zahlung eines Nachteilsausgleichs in Höhe von 16.307,20 EUR brutto. Der Betrag entsprach acht Monatsgehältern des Klägers. Zur Begründung führte das Gericht aus, die Beklagte habe sich nicht auf die einmalige Verhandlung mit dem Betriebsrat beschränken dürfen, sondern hätte die Einigungsstelle anrufen müssen. Hinsichtlich der Einzelheiten des Urteils wird auf die eingereichte Kopie (Bl. 18 - 24 d. A.) verwiesen.
Die Beklagte zahlte den ausgeurteilten Betrag in Höhe von 16.307,20 EUR brutto in 4 Raten an den Kläger aus. Die entsprechenden Abrechnungen wiesen die erste Zahlung als "Abschlag" und die weiteren drei Zahlungen als "Abfindung" aus. Hinsichtlich des genauen Inhalts der Abrechnu...