Entscheidungsstichwort (Thema)
Tariflicher Anspruch auf Zusatzgeld oder Freistellung von der Arbeitsleistung. Privatinsolvenz und Arbeitskraft des Schuldners
Leitsatz (redaktionell)
1. Nach der tariflichen Regelung des Manteltarifvertrages kann anstelle des tariflichen Zusatzgeldes eine Freistellung von der Arbeitsleistung gewährt werden. Diese Freistellung kann vom Arbeitgeber abgelehnt werden, wenn das ausfallende Arbeitsvolumen nicht betriebsintern ausgeglichen werden kann. Dazu gibt es eine tarifliche Erörterungspflicht oder Verhandlungsobliegenheit des Arbeitgebers mit dem Betriebsrat. Die Unterlassung der Erörterung oder Verhandlung mit dem Betriebsrat führt nicht dazu, dass der Arbeitnehmer seinen Anspruch auf Freistellung verlieren würde. Insoweit kann auf die Rechtsprechung zur Parallele in § 8 Abs. 3 S. 1 TzBfG verwiesen werden.
2. Befindet sich der Arbeitnehmer zum Zeitpunkt der beantragten Freistellungszeit in Privatinsolvenz, ist er nicht gehindert, über den Inhalt seines Arbeitsvertrages, d.h. seine Arbeitsleistung, ohne Zustimmung des Treuhänders zu verfügen. Denn die Arbeitskraft des Schuldners und dessen Arbeitsverhältnis als solches gehören nicht zur Insolvenzmasse. Die Arbeitskraft des Schuldners ist ein Persönlichkeitsrecht, also kein Vermögensobjekt.
3. Dass die Arbeitskraft nicht dem Insolvenzbeschlag unterfällt, folgt auch aus § 36 Abs. 1 Satz 1 InsO i.V.m. § 888 Abs. 3 ZPO. Der Insolvenzmasse wird nur das zugewiesen, womit der Schuldner für seine Schulden haftet, d.h. was Zugriffsobjekt in der Zwangsvollstreckung sein kann. Die Erbringung der Arbeitsleistung kann gem. § 888 Abs. 3 ZPO nicht mit Zwangsvollstreckungsmitteln durchgesetzt werden. Dieses Vollstreckungsverbot dient dem Schutz der Menschenwürde.
Normenkette
TzBfG § 8 Abs. 3 S. 1; ZPO § 888 Abs. 3; InsO § 36 Abs. 1, §§ 80, 81 Abs. 1 S. 1, § 97; MTV M+E Unterweser § 3 Nr. 12; TV T-ZUG § 5
Verfahrensgang
ArbG Bremen-Bremerhaven (Entscheidung vom 17.12.2019; Aktenzeichen 6 Ca 6062/19) |
Nachgehend
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird - unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen - das Urteil des Arbeitsgerichts Bremen-Bremerhaven vom 17.12.2019 - 6 Ca 6062/19 - abgeändert.
Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger im Kalenderjahr 2020 gem. § 5 Tarifvertrag über ein tarifliches Zusatzgeld vom 08.02.2018 und § 3 Ziffer 12 MTV Unterweser zusätzlich vom 14.09. bis zum 23.09.2020 von der Arbeitsleistung freizustellen.
Die Kosten des Rechtsstreits tragen die Parteien je zu Hälfte.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Gewährung von Zeiten der Freistellung anstelle eines tariflichen Zusatzgeldanspruchs.
Der Kläger wurde bei der Beklagten zum 01.10.1998 eingestellt und war zuletzt als Schweißer tätig. Seit dem 01.11.2019 ist er bei der M. AG aufgrund eines Betriebsübergangs beschäftigt (Bl. 172 Rs.).
Rechtsgrundlage der arbeitsrechtlichen Beziehungen der Parteien ist der Arbeitsvertrag vom 01.04.1999 (Bl. 17 f. d.A.). Der Kläger erhielt zuletzt ein Bruttoarbeitsentgelt i.H.v. € 4.094,97 bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 35 Stunden. Der Kläger ist seit 1999 ausschließlich in Wechselschicht tätig.
Das Tarifwerk der Metall- und Elektroindustrie im Bezirk Unterweser, insbesondere der Manteltarifvertrag der Metall- und Elektroindustrie für den Bezirk Unterweser vom 03.07.2008 in der jeweils gültigen Fassung finden auf das Arbeitsverhältnis der Parteien qua beidseitiger Tarifbindung Anwendung (Anlage B2, Bl. 69 ff. d.A.). Bei der Beklagten besteht darüber hinaus ein zwischen den Tarifparteien am 08.02.2018 abgeschlossener Tarifvertrag über ein tarifliches Zusatzgeld (TV T-ZUG). Nach diesem Tarifvertrag erhalten Beschäftigte, die zum Auszahlungstag in einem Arbeitsverhältnis stehen und zu diesem Zeitpunkt dem Betrieb ununterbrochen sechs Monate angehört haben, ein tarifliches Zusatzgeld i.H.v. 27,5 % eines Monatsverdienstes, wobei der Tarifvertrag konkrete Regelungen zur Berechnung des sich jeweils ergebenden Betrages vorsieht. Auszahlungszeitpunkt ist grundsätzlich jeweils der 31.07. eines Kalenderjahres. Der Anspruch auf das tarifliche Zusatzgeld entfällt, wenn die betroffenen Arbeitnehmer den aus § 3 Ziff. 12 MTV Unterweser vorgesehenen Anspruch auf tarifliche Freistellungszeit in Anspruch nehmen. Wegen der Einzelheiten des Tarifvertrages wird auf die Anlage B1 Bezug genommen (Bl. 44 ff. d. A.).
Der Kläger erfüllt die Voraussetzungen, um das tarifliche Zusatzgeld nach TV T-ZUG für das Jahr 2019 in Anspruch nehmen zu können.
Der MTV sieht in § 3 Ziff. 12 Regelungen zur tariflichen Freistellungszeit vor. Danach können Beschäftigte unter bestimmten Umständen anstelle des tariflichen Zusatzgeldes Freistellung in Anspruch nehmen. Die Regelung lautet im Einzelnen wie folgt:
"12. Tarifliche Freistellungszeit in besonderen Fällen
12.1 Beschäftigte können nach Maßgabe der nachfolgenden Bestimmungen verlangen, statt des tariflichen Zusatzgeldes (T-ZUG (A)) nach § 2 Ziff...