Entscheidungsstichwort (Thema)
Letzter geschlossener Betrieb als Begründung für die örtliche Zuständigkeit der BfA. Unbeachtlichkeit fehlerhafter Beendigungszeitpunkte bei Massenentlassungsanzeige. Übermaßverbot bei Massenentlassung
Leitsatz (amtlich)
1. Zuständige Behörde für die Massenentlassungsanzeige ist bei einer aufgelösten betrieblichen Struktur diejenige Agentur für Arbeit, in deren Zuständigkeitsbereich der letzte nach der Massenentlassungsrichtlinie feststellbare Betrieb lag und nicht die Agentur für Arbeit am gesellschaftsrechtlichen Sitz des Unternehmens. Dies gilt auch deshalb, weil die Klägerin nicht erst durch den Ausspruch der zweiten Kündigung arbeitssuchend geworden ist, sondern bereits aufgrund der (unwirksamen) Kündigung vom 27.01.2018. Wer dennoch für die erneuten Kündigungen eine Massenentlassungsanzeige verlangt, wird bei der Statuierung eventueller Unwirksamkeitsfolgen das Übermaßverbot beachten müssen und daher entweder die Folgen eventueller Fehler im Wege verfassungs- bzw. europarechtskonformer Auslegung bestimmen oder § 17 KSchG dem Bundesverfassungsgericht vorlegen oder den Europäischen Gerichtshof anrufen müssen.
2. Zu den Anforderungen an die Angabe des Zeitraums, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen, bei der Einleitung des Konsultationsverfahrens gemäß § 17 Abs. 2 KSchG.
Normenkette
RL 98/59/EG Art. 2 Abs. 3-4, Art. 3 Abs. 1; BetrVG § 102 Abs. 1; InsO § 113; KSchG § 1 Abs. 1-2, § 17 Abs. 1-3; ZPO § 97 Abs. 1
Verfahrensgang
ArbG Düsseldorf (Entscheidung vom 03.02.2021; Aktenzeichen 3 Ca 5257/20) |
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Düsseldorf vom 03.02.2021 - 3 Ca 5257/20 - wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens werden der Klägerin auferlegt.
Die Revision wird für die Klägerin zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses vor dem Hintergrund einer durch den Beklagten unter Berufung auf betriebsbedingte Gründe ausgesprochenen Kündigung.
Die im Januar 1962 geborene, keiner Person unterhaltsverpflichtete Klägerin war im Anschluss an ihre ab dem 01.08.1985 absolvierte Ausbildung seit dem 23.08.1985 bei der Air M. PLC & Co. Luftverkehrs KG bzw. deren Rechtsvorgängerin als Flugbegleiterin mit einem Bruttomonatsgehalt von zuletzt 3.429,79 Euro angestellt. Sie war ausschließlich in A. stationiert. Nach § 2 des Arbeitsvertrages vom 22.10.1985 galt für das Arbeitsverhältnis der Manteltarifvertrag Nr. 4 Kabinenpersonal LTU (im Folgenden MTV Nr. 4 Kabinenpersonal LTU), der in § 50 Abs. 3 nach Vollendung des 50. Lebensjahres und mindestens 15 Jahren Beschäftigungszeit nur noch eine außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses zulässt. Der Beklagte ist Insolvenzverwalter über das Vermögen der Air M. PLC & Co. Luftverkehrs KG (im Folgenden: Schuldnerin).
Bei der Schuldnerin handelte es sich um eine Fluggesellschaft mit Sitz in M., die Stationen an verschiedenen Flughäfen hatte. Die Schuldnerin beschäftigte mit Stand August 2017 mehr als 6.000 Arbeitnehmer, davon 1.318 Cockpitmitarbeiter, 3.362 Beschäftigte in der Kabine und 1.441 Mitarbeiter am Boden. Der Station A. waren gut 2000 Arbeitnehmer zugeordnet. Die Schuldnerin bediente im Linienflugverkehr Ziele in Europa, Nordafrika, Israel sowie in Nord- und Mittelamerika und unterhielt Stationen an den Flughäfen M.-U., A., N., G., T., I., L., Q., O. und M.. Die Langstreckenflüge wurden in erster Linie von den Drehkreuzen in M.-U. und A. aus durchgeführt.
Das fliegende Personal trat am sog. Stationierungsort (home base bzw. Heimatbasis) seinen Dienst an und beendete ihn dort. Soweit Personal auf Flügen von anderen Flughäfen als dem vereinbarten Dienstort eingesetzt wurde, erfolgte dies in Form des sog. proceeding. Das Personal fand sich dabei zunächst am Dienstort ein und wurde von dort zum Einsatzflughafen gebracht.
In M. war der Leiter des Flugbetriebs ("Head of Flight Operations") ansässig. Diesem oblag die gesamte Leitung des Flugbetriebs im operativen Geschäft. Ihm unterstellt waren ua. die Abteilungen Cabin Crew sowie Crew Operations. Die Einsatzplanung für das Kabinenpersonal wurde seit Mitte 2017 in M. für den gesamten Flugbetrieb erstellt (Crew Planning). Dies umfasste die Urlaubsplanung und die Planung der Kabinencrew-Verkehre zwischen den einzelnen Stationen.
Der Leitung der Abteilung Cabin Crew oblag die Durchsetzung, Kontrolle und Einhaltung aller Betriebsregeln im Bereich Kabine sowie die Personalplanung des gesamten Kabinenpersonals einschließlich der Begründung, Beendigung oder Änderung von Arbeitsverhältnissen. Ausweislich des sog. "Operations Manual Part A" (OM/A, Stand 20.07.2017), welches die Organisationsstruktur des Flugbetriebs abbildete, waren der Leitung des Kabinenpersonals ("PX-OK Cabin Crew") ua. zwei Regional Manager unterstellt.
Die Regional Manager waren als Flugbegleiter angestellt und in der Regel auch im operativen Flugbetrieb eingesetzt. Sie hatten keine eigenen Entscheidungskompetenzen. Das OM/A beschreibt di...