Entscheidungsstichwort (Thema)
Fehlerhafte Massenentlassungsanzeige
Leitsatz (amtlich)
Der Verstoß gegen die Mussvorschrift des § 17 Abs. 3 Satz 2, 3 KSchG hat die Unwirksamkeit der Kündigung zur Folge. Unerheblich ist, dass die Agentur für Arbeit die ihr (nicht ordnungsgemäß) angezeigte Massenentlassung nicht beanstandet hat.
Normenkette
KSchG §§ 17-18
Verfahrensgang
ArbG Solingen (Urteil vom 24.06.2010; Aktenzeichen 1 Ca 649/09 lev) |
Nachgehend
Tenor
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Solingen vom 24.06.2010 wird kostenfällig zurückgewiesen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Rechtswirksamkeit einer ordentlichen arbeitgeberseitigen Kündigung vom 11.03.2009, die der Beklagte nach einem Interessenausgleich mit Namensliste ausgesprochen hat.
Der Kläger bestreitet die ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrats. Des Weiteren beanstandet er die Massenentlassungsanzeige. Schließlich stellt er die Betriebsbedingtheit der Kündigung in Abrede und hält die Bildung des auswahlrelevanten Personenkreises für grob fehlerhaft.
Der Beklagte beruft sich demgegenüber auf die durch § 125 Abs. 1 Satz 1 InsO begründete Vermutung der Betriebsbedingtheit der Kündigung und die auf grobe Fehlerhaftigkeit beschränkte Sozialauswahlkontrolle. Er macht geltend, den Betriebsrat mündlich und schriftlich zur Kündigung angehört zu haben. Schließlich verteidigt er die Massenentlassungsanzeige als ordnungsgemäß und hält den Einwänden des Klägers entgegen, dass die zuständige Agentur für Arbeit der Massenentlassung zugestimmt hat.
Der Kläger, am 11.5.1970 geboren, ledig, trat am 23.10.1990 als Chemiefachwerker in die Dienste der U. GmbH M., Rechtsvorgängerin der U. G. GmbH. Gemäß Überleitungsvertrag vom 08.08.2007 ging das Arbeitsverhältnis auf die U. G. Services GmbH über. Die U. G. Services GmbH ist innerhalb der U. G. Gruppe, die Bremsbeläge für Personenkraftwagen und Nutzfahrzeuge herstellt, im Wesentlichen mit dem Vertrieb der Produkte im Ersatzteilmarkt befasst und nimmt für die Gruppe die Aufgaben der Forschung und Entwicklung wahr. Der Kläger war seit dem Jahr 1997 als Versuchsfahrer in der Abteilung R&D Vehicle Testing (Fahrversuch) im Bereich Passenger Cars tätig.
Die U. G. Services GmbH beschäftigte zuletzt ca. 544 Arbeitnehmer, davon 445 im Betrieb M..
Am 08.12.2008 wurde über das Vermögen der U. G. Services GmbH (Schuldnerin) das vorläufige Insolvenzverfahren eröffnet und der Beklagte zum vorläufigen Insolvenzverwalter bestellt. Während des vorläufigen Insolvenzverfahrens beschloss die Schuldnerin im Zusammenwirken mit dem Beklagten ein Sanierungskonzept, das am Standort M. einen Personalabbau von 44 Mitarbeitern vorsah. Am 23.02.2009 nahmen der Beklagte und die Schuldnerin mit dem Betriebsrat Verhandlungen über einen Interessenausgleich und Sozialplan auf. Am 24.02.2009 kam der Interessenausgleich mit einer 44 Arbeitnehmer, darunter den Kläger, umfassenden Namensliste zustande.
Mit Formularschreiben vom 25.02.2009 zeigte die Schuldnerin bei der Agentur für Arbeit die Massenentlassung von 37 Mitarbeitern an. In einer der Anzeige beigefügten Liste sind die Mitarbeiter ohne Namensnennung nach Geschlecht, Staatsangehörigkeit, Alter, Familienstand, Beschäftigungsort, Beruf, zuletzt ausgeübte Tätigkeit und Einstellungsjahr bei Angabe des 27.02.2009 als vorgesehenem Kündigungsdatum aufgeführt. Der Kläger ist in der Liste unter Nr. 19 erfasst.
Die Massenentlassungsanzeige ging bei der Agentur für Arbeit Bergisch-Gladbach (nachfolgend: AfA) per Fax am 26.02.2009, 11:48 Uhr ein. Mit Schreiben vom 26.02.2009 an die Schuldnerin bestätigte die AfA den Eingang der Anzeige. Weiter heißt es: „Damit beginnt die in § 18 Abs. 1 KSchG festgesetzte Frist von einem Monat am 27.02.2009 und endet am 26.03.2009 (§§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 BGB). Innerhalb dieser Frist werden Kündigungen nur mit Zustimmung des in § 20 KSchG bezeichneten Entscheidungsträgers wirksam. …”
Am 26.02.2009, 17:00 Uhr, ging der AfA per Fax ein von der Betriebsratsvorsitzenden Frau B. unterzeichnetes Schreiben vom 26.02.2009 (Bl. 186 GA) zu, wonach „der Betriebsrat der U. G. Services GmbH darüber informiert (wurde), dass ein Antrag auf Entlassungen gemäß § 17 Kündigungsschutzgesetz an die Agentur für Arbeit gesendet wurde.” Ebenfalls am 26.02.2009 um 20:04 Uhr erhielt die AfA per Fax einen „Interessenausgleich vom 23./ 24.02.2009”. Dabei handelt es sich nicht um den zwischen der Schuldnerin und dem Betriebsrat am 24.02.2009 abgeschlossenen Interessenausgleich, sondern um den im Schwesterunternehmen U. G. GmbH mit dem dortigen Betriebsrat geschlossenen Interessenausgleich. Weitere Unterklagen ließen die Schuldnerin bzw. der Beklagte der AfA im Massenentlassungsanzeigeverfahren nicht zukommen.
Am 01.03.2009 wurde über das Vermögen der Schuldnerin das Insolvenzverfahren eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter bestellt.
Am selben Tag schlossen der Beklagte und der Betriebs...