Entscheidungsstichwort (Thema)
Nutzung des § 128a ZPO in Pandemiezeiten. Homeoffice als anderer Ort im Sinne des § 128a ZPO. Gerichtliche Pflicht zur Auswahl eines angemessenen Ortes bei Videoverhandlung. Zulässigkeit einer Altersgrenze von 55 Jahren bei betrieblicher Altersvorsorge. Keine Diskriminierung bei Festlegung einer Altersgrenze
Leitsatz (amtlich)
1. Die Zuschaltung der Parteivertreter bei einer Verhandlung im Wege der Bild- und Tonübertragung aus der Kanzlei bzw. dem Homeoffice steht im Einklang mit § 128a Abs. 1 ZPO. Der "andere Ort" im Sinne dieser Bestimmung ist nicht auf einen Gerichtsaal bzw. vom Gericht zur Verfügung gestellten Raum beschränkt. Eine inhaltliche Beschränkung des "anderen Orts" enthält § 128a ZPO nicht.
2. Es ist Aufgabe des Gerichts, dafür zu sorgen, dass eine ordnungsmäße und dem Wesen einer Gerichtsverhandlung angemessene mündliche Verhandlung durchgeführt wird. Wo dies nicht der Fall ist, d.h. kein angemessener Ort gewählt wird (Schwimmbad, Kneipe, Fußballplatz), kann die Bild- und Tonübertragung unter- oder abgebrochen werden. In Betracht kommt außerdem die Anwendung von Ordnungsmitteln.
3. Die so verstandene Auslegung von § 128a ZPO, welche dem Gesetzeswortlaut, der Gesetzesbegründung und dem Normzweck entspricht, ist in Zeiten einer epidemischen Lage auch gemäß Art. 19 Abs. 4 GG geboten. In besonderen Lagen - wie derzeit - kann die audio-visuelle Verhandlung zur Erhaltung der Funktionsfähigkeit der Justiz und zum Schutz der Individualrechtsgüter von Gerichtspersonen, Parteien, Bevollmächtigten und Zeugen genutzt werden. 4. Eine Altersgrenze von 55 Jahren als Zugangsvoraussetzung für einen Anspruch auf betriebliche Altersversorgung ist zulässig. Sie beinhaltet weder eine unzulässige Diskriminierung wegen des Alters noch wegen des Geschlechts. Das Abstellen auf ein typisches Erwerbsleben innerhalb der Angemessenheitsprüfung zur Rechtfertigung der unterschiedlichen Behandlung wegen des Alters begründet bei einem Zugangsalter von 55 Jahren keine mittelbare Diskriminierung wegen des Geschlechts.
Normenkette
AGG §§ 1, 2 Abs. 2, §§ 3, 7 Abs. 1, § 10; BGB § 315; ArbGG a.F. § 114 Abs. 1-2; GVG § 176 Abs. 1, §§ 177-178; ZPO § 128a Abs. 1-2, § 160 Abs. 1, §§ 219, 253 Abs. 2, § 256 Abs. 1, § 377 Abs. 2; GVG § 169; ZPO § 97 Abs. 1
Verfahrensgang
ArbG Essen (Entscheidung vom 02.06.2020; Aktenzeichen 2 Ca 2392/19) |
Nachgehend
Tenor
- Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Essen vom 02.06.2020 - 2 Ca 2392/19 - wird zurückgewiesen.
- Die Kosten des Berufungsverfahrens werden der Klägerin auferlegt.
- Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über einen Anspruch auf betriebliche Altersversorgung.
Die am 22.06.1961 geborene Klägerin war seit dem 18.07.2016 bei der Beklagten, einer Gewerkschaft, als Mitarbeiterin im Sekretariatsdienst beschäftigt. Die Beschäftigung erfolgte zunächst auf Basis eines befristeten Arbeitsvertrages vom 08.07.2016/15.07.2016 als Zweckbefristung für die Zeit der krankheitsbedingten Abwesenheit der Beschäftigten H. B. im Umfang von 50% der Arbeitszeit eines Vollzeitbeschäftigten. Es schloss sich ab dem 06.10.2016 auf der Grundlage des Arbeitsvertrages vom 29.09.2016 ein weiterer zweckbefristeter Arbeitsvertag für die Zeit der krankheitsbedingten Abwesenheit der Beschäftigten F. V. ebenfalls in Teilzeit mit 50% an. Mit Arbeitsvertrag vom 08.11.2016 wurde das Arbeitsverhältnis ab dem 14.11.2016 als unbefristetes Arbeitsverhältnis als Mitarbeiterin im Sekretariatsdienst mit einer Arbeitszeit von 75% eines Vollzeitbeschäftigten fortgesetzt.
Bei der Beklagten bestand eine Gesamtbetriebsvereinbarung zur Neuregelung der Zusagen auf betriebliche Altersversorgung in w. (im Folgenden GBV Zusage). Diese lautete u.a. wie folgt:
"§ 4 Beschäftigte ohne Versorgungszusage sowie neu eingestellte Beschäftigte
...
(2) Ab dem 01.03.2007 neu eingestellte Beschäftigte erhalten eine Versorgungszusage nach der VO95.
(3) Ab dem 01.07.2016 neu eingestellte Beschäftigte erhalten eine Versorgungszusage nach der VO95 Tarif R13 (Anlage 3 der VO95).
..."
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die zur Akte gereichte Ablichtung der GBV Zusage Bezug genommen. Die Versorgungsordnung 1995 (im Folgenden VO 1995) enthielt u.a. folgende Bestimmungen:
"§ 1 Geltungsbereich
(1) Diese Versorgungsordnung gilt für die betriebliche Altersversorgung der Beschäftigten und früheren Beschäftigten der Gewerkschaften, des DGB und der gewerkschaftlichen Einrichtungen (Kassenmitglieder), soweit die betriebliche Altersversorgung von der Unterstützungskasse des DGB e.V. durchgeführt wird und soweit nicht die Unterstützungsrichtlinien 1988 oder die Unterstützungsrichtlinien 1983 gelten.
(2) Diese Versorgungsordnung gilt für die Beschäftigten und früheren Beschäftigten der Kassenmitglieder nur dann, wenn ihr Kassenmitglied gegenüber der Unterstützungskasse die schriftliche Erklärung abgegeben hat, dass es dieser Versorgungsordnung beitritt.
...