Entscheidungsstichwort (Thema)
Wirksamkeit einer Betriebsvereinbarung hinsichtlich der Vergütungspflicht von Reisezeit von Außendienstmitarbeitern
Leitsatz (amtlich)
1. Ist der Arbeitsvertrag betriebsvereinbarungsoffen ausgestaltet - was regelmäßig angenommen werden darf, wenn der Vertragsgegenstand durch AGB geregelt ist und einen kollektiven Bezug hat (vgl. BAG, Urteil vom 25. Mai 2016 - 5 AZR 135/16 -, juris, Rn. 52, m.w.N.) -, so verdrängt eine Betriebsvereinbarung, nach deren Bestimmungen, die ersten und letzten 20 Minuten der Reisezeit eines Außendienstmitarbeiters von der Wohnstätte zum ersten Kunden und die ersten 20 Minuten der Rückfahrt vom letzten Kunden nach Hause, nicht zur Arbeitszeit gehören, den ansonsten nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts anzunehmenden Grundsatz (vgl. dazu BAG, Urteil vom 22. April 2009 - 5 AZR 292/08 -, Rn. 15, juris), dass die gesamte Fahrzeit des Außendienstmitarbeiters Arbeitszeit darstellt, für die er von der ersten bis zur letzten Minute Vergütung beanspruchen kann.
2. Wo eine ausdrückliche tarifliche Bestimmung fehlt, verstößt eine solche Betriebsvereinbarung nicht gegen die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 BetrVG. Denn sie regelt weder, wie die Arbeitszeit zu vergüten ist, noch trifft sie eine Aussage über die Dauer der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit. Sie bestimmt vielmehr ausschließlich, welche Fahrzeiten des Außendienstmitarbeiters als Erfüllung seiner vertraglich geschuldeten Hauptleistungspflicht gelten (vgl. BAG, Beschluss vom 10. Oktober 2006 - 1 ABR 59/05 -, Rn. 28, juris).
Normenkette
BGB §§ 611, 305; BetrVG § 77 Abs. 3
Verfahrensgang
ArbG Essen (Entscheidung vom 15.02.2018; Aktenzeichen 5 Ca 2859/17) |
Nachgehend
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Essen vom 15.02.2018 - 5 Ca 2859/17 - wird auf seine Kosten zurückgewiesen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, ob es sich bei der Anfahrtszeit zum ersten und der Abfahrtszeit vom letzten Kunden um uneingeschränkt vergütungspflichtige Arbeitszeit handelt oder die jeweils ersten 20 Minuten dieser Fahrten aufgrund einer entsprechenden Betriebsvereinbarung nicht vergütungspflichtig sind.
Die Beklagte bietet Lösungen für digitale Bürokommunikation, Produktionsdruck sowie Druck- und Dokumentenmanagement an. Ihren juristischen Sitz und ihre Hauptverwaltung hat sie in I.. Aufgrund Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband ist sie an die Tarifverträge des Groß- und Außenhandels Niedersachsen gebunden. Verteilt über das Bundesgebiet unterhält sie insgesamt zehn sog. "Business & Service Center", eines davon am Standort E.. Die sog. BSC sind Service- und Direktvertriebsstandorte, die vorwiegend der Koordination der Außendienstmitarbeiter aus den Bereichen Vertrieb und Service dienen. Von den derzeit insgesamt rund 3.300 Mitarbeitern der Beklagten sind ca. 900 in den Business & Service Centern tätig.
Der Kläger ist bei der Beklagten als Servicetechniker im Außendienst gegen ein monatliches Entgelt von zuletzt € 2.551,41 brutto tätig. Wegen der Einzelheiten der arbeitsvertraglichen Vereinbarungen wird auf die mit der Klageschrift überreichte Kopie des zwischen dem Kläger und der Rechtsvorgängerin der Beklagten unter dem 01.09.1999 geschlossenen Arbeitsvertrages Bezug genommen.
Das Einsatzgebiet des Klägers ist dem Business & Service Center E. zugeordnet. Da den Außendienstmitarbeitern die Aufträge jedoch in der Regel am Nachmittag des Vortages zentral über die sog. Abteilung "Dispatch" aus der Hauptverwaltung in I. zugewiesen werden und sie regemäßig auch kein Material am jeweiligen Betriebsstandort abholen müssen, fährt der Kläger ebenso wie alle übrigen Außendienstmitarbeiter regelmäßig von zuhause direkt zum ersten Kunden und kehrt abends vom letzten Kunden unmittelbar nachhause zurück.
Für die bei der Beklagten beschäftigten Servicetechniker gilt die "Betriebsvereinbarung über Ein- und Durchführung von flexibler Arbeitszeit für Servicetechniker" vom 27. Juni 2001 (BV). In dieser BV, wegen deren Details auf die mit der Klageschrift vorgelegte Kopie verwiesen wird, findet sich u.a. folgende Regelung:
§ 8An- und Abfahrtszeiten
Anfahrtszeiten zum ersten und Abfahrtszeiten vom letzten Kunden zählen nicht zur Arbeitszeit, wenn sie 20 Minuten nicht übersteigen. Sobald die An- oder Abreise länger als 20 Minuten dauert, zählt die 20 Minuten übersteigende Reisezeit zur Arbeitszeit. Insoweit sind für den Kundendiensttechniker jeweils 20 Minuten Fahrzeit für An- und Abreise zumutbar.
Die Beklagte führt für den Kläger ein Arbeitszeitkonto, in welchem die Arbeitszeit - ausschließlich das Zeitguthaben bzw. die Zeitschuld - erfasst wird. Gestützt auf § 8 BV verbucht die Beklagte die ersten bzw. letzten maximal 20 Minuten der Fahrtzeit zu bzw. von einem Kunden nicht als Arbeitszeit.
Mit seiner Klage wendet sich der Kläger gegen diese Handhabung.
Unter Berufung auf das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 22.04.2009 - ...