Entscheidungsstichwort (Thema)
Versetzung in Vermittlungs- und Qualifizierungsbetrieb. Versetzung und Direktionsrecht. Vorübergehende Abordnung
Leitsatz (amtlich)
1. Durch einen Tarifvertrag kann der Arbeitgeber, da die Regelungsmacht der Tarifvertragsparteien durch § 2 KSchG begrenzt ist, nicht wirksam ermächtigt werden, Arbeitnehmer gegen ihren Willen in einen Vermittlungs- und Qualifizierungsbetrieb zu versetzen, in dem jedenfalls auch die Zwecke verfolgt werden, dass die Arbeitnehmer durch einen Wechsel zu konzernangehörigen oder externen anderen Arbeitgebern ihr Arbeitsverhältnis beenden bzw. dass sie als Leiharbeitnehmer tätig werden.
2. Dies gilt auch dann, wenn der Tarifvertrag im Übrigen das Ziel verfolgt, die Arbeitnehmer vor den Auswirkungen einer etwaigen Arbeitslosigkeit nach einer bereits jetzt absehbaren Einstellung des gesamten Geschäftsbetriebs zu schützen, z. B. durch Qualifizierungsmaßnahmen.
3. Die Unwirksamkeit der Regelung von wesentlichen Pflichten der Arbeitnehmer im Vermittlungs- und Qualifizierungsbetrieb führt zur Unwirksamkeit der Versetzung in diesen Betrieb. Dem kann nicht entgegengehalten werden, unwirksame Verpflichtungen führten aufgrund ihrer Unbeachtlichkeit zu keinem Nachteil für den Arbeitnehmer.
4. Eine Zuordnung oder Versetzung zu einem Vermittlungs- und Qualifizierungsbetrieb ändert den Inhalt der Arbeitsleistung auch dann, wenn der Arbeitnehmer im Anschluss an die Zuordnung oder Versetzung unter ausdrücklichem Hinweis auf die weiterhin bestehende Zugehörigkeit zum Vermittlungs- und Qualifizierungsbetrieb vorübergehend wieder auf seinen alten Arbeitsplatz abgeordnet wird. 5.Eine Zuordnung oder Versetzung in einen Vermittlungs- und Qualifizierungsbetrieb kann zulässigerweise mit der Feststellungsklage gerichtlich überprüft werden.
Normenkette
GG Art. 9 Abs. 3; KSchG § 2; GewO § 106; ZPO § 256; Tarifverträge Steinkohle; BetrVG § 99; BGB § 139
Verfahrensgang
ArbG Wesel (Entscheidung vom 29.04.2013; Aktenzeichen 3 Ca 15/13) |
Tenor
Tatbestand
Die Parteien streiten vor dem Hintergrund der Beendigung des Steinkohlenbergbaus über die Rechtswirksamkeit einer Versetzung des Klägers.
Der 1975 geborene Kläger trat zum 01.09.1992 als Angestellter im Gesundheits- und Sozialdienst in die Dienste der Beklagten, einem Bergbauunternehmen. Der Kläger war und ist tätig im Bergwerk X. in L.-M. mit einer monatlichen Bruttovergütung, die nach Angaben des Klägers 3.820,30 € und nach Angaben der Beklagten 2.619,31 € beträgt. Bei der Beklagten und ihrer Tochtergesellschaft in J. waren Ende des Jahres 2011 über alle Standorte hinweg noch 17.962 Arbeitnehmer beschäftigt. Zum 01.01.2013 waren es 15.049 Arbeitnehmer.
Im Arbeitsvertrag ist u. a. folgende Regelung enthalten:
"Die Übertragung anderer Aufgaben, die der Vorbildung, Berufserfahrung und den Fähigkeiten entsprechen, bleibt vorbehalten.
Der Arbeitgeber ist berechtigt, den Arbeitnehmer auch in andere Betriebe der S. Aktiengesellschaft zu versetzen."
Aufgrund beiderseitiger Tarifgebundenheit und kraft arbeitsvertraglicher Bezugnahme finden auf das Arbeitsverhältnis die Tarifverträge zischen der IG BCE und dem Gesamtverband Steinkohle e. V. Anwendung.
Mit dem Steinkohlefinanzierungsgesetz vom 20.12.2007 beschloss der Gesetzgeber die Beendigung der subventionierten Förderung der Steinkohle in Deutschland zum Ende des Jahres 2018. Gemäß der Richtlinie zur Gewährung von Anpassungsgeld (im folgenden: APG) an Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen im Steinkohlenbergbau des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie vom 04.12.2008 erhalten Arbeitnehmer vom Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle Anpassungsgeld, wenn sie, kurz gefasst, vor dem 01.01.2023 aus betriebsbedingten Gründen entlassen werden, ihr Arbeitsverhältnis bereits vor dem 01.01.2006 begründet war, sie bestimmte Tätigkeitszeiten zurückgelegt haben und in längstens fünf Jahren in Rente gehen können. Wegen der Einzelheiten wird auf die im Bundesanzeiger Nr. 196 vom 24.12.2008, S. 4697 ff., veröffentlichten Richtlinien Bezug genommen.
Mit Wirkung zum 01.04.2012 schlossen die IG BCE und der Gesamtverband Steinkohle e. V. einen Tarifvertrag zur Gestaltung sozialverträglicher Personalmaßnahmen anlässlich der Beendigung des deutschen Steinkohlenbergbaus zum 31.12.2018 (im Folgenden: Tarifvertrag Beendigung deutscher Steinkohlenbergbau).
Der Tarifvertrag enthält u. a. folgende Regelungen:
"1.2 Zielsetzung dieses Tarifvertrages
Mit diesem Tarifvertrag üben die Tarifvertragsparteien ihr beschäftigungspolitisches Mandat aus. Sie schützen den im Rahmen der Stilllegung entstehenden bzw. bereits jetzt absehbaren Personalüberhang gegen an sich notwendige betriebsbedingte Beendigungskündigungen. Dafür ist aber von den Arbeitnehmern kollektive maximale Flexibilität erforderlich.
Mit diesem Tarifvertrag sollen die Interessen aller Beteiligte...