Entscheidungsstichwort (Thema)

Nachwirkung eines für allgemein verbindlich erklärten Tarifvertrages für Aussenseiter

 

Leitsatz (amtlich)

Gemäss § 4 Abs. 3 TVG gelten die Tarifnormen eines für allgemein verbindlich erklärten Tarifvertrages Kraft Nachwirkung auch für Aussenseiter weiter.

Für eine Beendigung der Nachwirkung reicht es nicht aus, dass ein Tarifvertrag geschlossen wird, der keine Geltung für Aussenseiter erlangt.

 

Normenkette

TVG § 4 Abs. 3, § 5 Abs. 5 S. 3; MTV Hamburger Einzelhandel v. 18.6.93 § 11; MTV Hamburger Einzelhandel v. 18.6.93 § 12

 

Verfahrensgang

ArbG Hamburg (Urteil vom 13.01.1999; Aktenzeichen 12 Ca 261/98)

 

Nachgehend

BAG (Urteil vom 25.10.2000; Aktenzeichen 4 AZR 691/99)

 

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Hamburg vom 13. Januar 1999 – 12 Ca 261/98 – wird auf deren Kosten zurückgewiesen.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Nachwirkung eines für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrages.

Die Beklagte betreibt einen Einzelhandel mit Lederwaren und Accessoires, in Hamburg mit vier Geschäften sowie mit einer Filiale in Wedel bei Hamburg und einer weiteren auf Sylt. Die Klägerin ist als Verkäuferin seit 1. März 1990 für die Beklagte in Hamburg tätig. Ein schriftlicher Arbeitsvertrag existiert nicht.

Die Parteien sind beide nicht tarifgebunden.

In der Vergangenheit rechnete die Beklagte die Arbeitsverhältnisse nach dem Manteltarifvertrag für den Hamburger Einzelhandel vom 18. Juni 1993 (zukünftig MTV alt) ab, der im Februar 1994 für allgemeinverbindlich erklärt worden war und der in § 11 ein Urlaubsgeld und in § 12 eine Sonderzuwendung vorsah. Dieser Tarifvertrag wurde zum 31. Dezember 1996 gekündigt. Am 8. August 1997 schlossen die Tarifvertragsparteien einen neuen Manteltarifvertrag (zukünftig MTV neu), der mit dem 1. Januar 1998 in Kraft trat. Dieser neue Manteltarifvertrag ist bislang nicht für allgemeinverbindlich erklärt worden und findet auch nicht kraft Arbeitsvertrages bzw. -gesetzes auf das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis Anwendung. In Ziffer 2 des § 22 „Schlussbestimmungen” des MTV neu ist geregelt:

„Der Manteltarifvertrag vom 18. Juni 1993 sowie der Tarifvertrag … treten zum 31. Dezember 1997 außer Kraft.”

Die Klägerin begehrt mit der Klage Zahlung des der Höhe nach unstreitigen tariflichen Urlaubsgeldes und der tariflichen Sonderzuwendung nebst 4 % Fälligkeitszinsen für die Jahre 1997 und 1998.

Die Klägerin hat vorgetragen, die Ansprüche stünden ihr aus dem Gesichtspunkt der Nachwirkung sowohl für 1997 als auch für 1998 zu. Die gesetzlich angeordnete Nachwirkung sei auch durch den am 1. Januar 1998 in Kraft getretenen Tarifvertrag nicht beseitigt worden. Sie knüpfe allein an den Ablauf eines Tarifvertrags an und beschränke sich richtiger Ansicht nach nicht auf Arbeitsverhältnisse, die zuvor kraft Organisationszugehörigkeit unmittelbar und zwingend tarifgebunden gewesen seien. Der neue Tarifvertrag könne nicht als andere Abmachung im Sinne von § 4 Abs. 5 TVG angesehen werden, weil er – wie unstreitig – nicht für allgemeinverbindlich erklärt worden sei.

Die Klägerin hat beantragt,

  1. die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 3.318,87 DM brutto nebst 4 % Zinsen auf den sich ergebenden Nettobetrag aus 1.863,61 DM ab 1. Dezember 1997 und aus 1.455,26 DM ab 1. April 1998 zu zahlen;
  2. die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin weitere 1.455,26 DM brutto nebst 4 % Zinsen auf den sich daraus ergebenden Nettobetrag seit 13. Oktober 1998 sowie am 30. November 1998 weitere 1.853,61 DM brutto zuzüglich 4 % Zinsen auf den sich daraus ergebenden Nettobetrag ab 1. Dezember 1998 zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat vorgetragen, dass sich bereits aus dem Wortlaut der gesetzlichen Norm des § 5 Abs. 5 Satz 3 TVG ergebe, dass eine Nachwirkung für allgemeinverbindlich erklärte Tarifverträge nicht in Betracht komme. Gleiches folge auch aus Sinn und Zweck der Nachwirkung. Die Allgemeinverbindlichkeit entfalte keine Nachwirkung, um tariflose Zustände zu überbrücken. Ihr Sinn und Zweck bestehe darin, korrigierend in das Grundrecht der negativen Koalitionsfreiheit einzugreifen, wenn ein sozialer Notstand oder das öffentliche Interesse nach Antragstellung durch die Tarifvertragsparteien dies für erforderlich erscheinen lassen. Eine Zulassung der Allgemeinverbindlichkeit liefe auf eine mit dem Grundrecht auf negative Koalitionsfreiheit nicht zu vereinbarende Überbrückungsfunktion hinaus. Das gelte besonders für einen Zeitraum, in dem bereits ein neuer, nicht für allgemeinverbindlich erklärter Tarifvertrag in Kraft getreten sei. Anderenfalls käme man zu dem absurden Ergebnis, dass nicht tarifgebundene Arbeitnehmer weiterhin Ansprüche aus einem aufgehobenen Tarifvertrag herleiten könnten, während sich die tarifgebundenen Arbeitnehmer mit den unter Umständen ungünstigeren Ansprüchen aus dem neuen Tarifvertrag begnügen müssten.

Zum anderen sei im vorliegenden Fall sowohl für das Jahr 1997 als auch fü...

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