Entscheidungsstichwort (Thema)
Auslegungsgrundsätze zum normativen Teil von Tarifverträgen. Weiter Gestaltungsspielraum der Tarifparteien bei der Bestimmtheit und Klarheit der formulierten tariflichen Regelungen. Tarifliches Verständnis zur Nichtvertretbarkeit einer Rentenanpassung aus wirtschaftlichen Gründen. Tarifliche Ausgestaltung des Leistungsbestimmungsrechts des Versorgungsschuldners bei der jährlichen Anpassung der Betriebsrente
Leitsatz (redaktionell)
1. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts folgt die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrages den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln (BAG v. 26.04.2017 - 10 AZR 589/15 - Tz 13). Danach ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen ist, ohne am Buchstaben zu haften. Über den reinen Wortlaut hinaus ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und der damit von ihnen beabsichtigte Sinn und Zweck der Tarifnorm mit zu berücksichtigen, sofern und soweit er in den tariflichen Regelungen und ihrem systematischen Zusammenhang Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist stets auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefert und nur so Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden können. Lässt dies zweifelsfreie Auslegungsergebnisse nicht zu, können die Gerichte für Arbeitssachen ohne Bindung an eine Reihenfolge weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrags, gegebenenfalls auch die praktische Tarifübung ergänzend hinzuziehen. Auch die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse ist zu berücksichtigen. Im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt. (BAG v. 26.04.2017 - 10 AZR 589/15 - Tz 14; BAG v. 22.04.2010 - 6 AZR 962/08 - Tz 17; BAG v. 19.09.2007 - 4 AZR 670/06 - Tz 30). Ist eine Ausnahmeregelung gegeben, so ist eine solche grundsätzlich nicht extensiv, sondern eng auszulegen (vgl. BAG v. 26.03.1997 - 10 AZR 751/96 - Tz 36; BAG v. 13.91.1981 - 6 AZR 678/78 - Tz 14).
2. Bei Aufstellen ihrer normativen Regelungen unterliegen die Tarifpartner dem rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebot (grundlegend: BAG v. 29.01.1986 - 4 AZR 465/85 - Tz 48ff). Der Normgeber muss dabei die von ihm erlassenen Regelungen so bestimmt fassen, dass die Rechtsunterworfenen in zumutbarer Weise feststellen können, ob die tatsächlichen Voraussetzungen für die in der Rechtsnorm ausgesprochene Rechtsfolge erfüllt sind (BAG v. 19.04.2012 - 6 AZR 677/10 - Tz 27; BAG v. 21.09.2011 - 7 ABR 54/10 - Tz 36). Die Tarifvertragsparteien haben aber bei der technischen Umsetzung der von ihnen verfolgten Zwecke regelmäßig einen weiten Gestaltungsspielraum. Sie dürfen insbesondere unbestimmte Rechtsbegriffe verwenden (BAG v. 19.04.2012 - 6 AZR 677/10 - Tz 27; BAG v. 21.09.2011 - 7 ABR 54/10 - Tz 36). Gerichte dürfen tarifliche Regelungen nur in ganz besonderen Ausnahmefällen wegen mangelnder Bestimmtheit und des darauf beruhenden Verstoßes gegen rechtsstaatliche Grundsätze für unwirksam erachten (sind (BAG v. 19.04.2012 - 6 AZR 677/10 - Tz 27). Hieraus folgt, dass unbestimmte Rechtsbegriffe jedenfalls dann verwendet werden dürfen und nicht zur Unwirksamkeit einer tariflichen Bestimmung führen, wenn sich mithilfe der üblichen Auslegungsmethoden, insbesondere durch Heranziehung anderer Vorschriften desselben Regelungswerks, durch Berücksichtigung des Normzusammenhangs oder aufgrund einer gefestigten Rechtsprechung eine zuverlässige Grundlage für eine Auslegung und Anwendung der Norm gewinnen lässt. Die Rechtsprechung ist zudem gehalten, verbleibende Unklarheiten über den Anwendungsbereich einer Norm durch Präzisierung und Konkretisierung im Wege der Auslegung nach Möglichkeit auszuräumen (BAG v. 21.09.2011 - 7 ABR 54/10 - Tz 36).
3. Die in § 6 Ziff. 4 1. Hs. VO 85 enthaltene Formulierung "für nicht vertretbar hält" stellt einen unbestimmten Rechtsbegriff dar. Sie ist dahingehend auszulegen, dass die Arbeitgeberin von einer Anpassung der Betriebsrenten entsprechend den Erhöhungen der gesetzlichen Renten nur absehen darf, wenn sie eine Interessenabwägung vorgenommen hat, die auf Arbeitgeberseite wirtschaftlich veränderte, finanziell belastende Verhältnisse einbezieht und sich auf entsprechende sachliche Gründe stützen kann. Dabei muss sie den Ausnahmecharakter des Anpassungsvorbehalts beachten sowie die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit sowie des Vertrauensschutzes wahren. Im Ergebnis haben ihre Interessen die der Betriebsrentner zu überwiegen. Aus dem Wortlaut folgt, dass die Beklagte bei ihrer Entscheidung, von dem Anpassungsgrundsatz abweichen zu wollen, eine Interessenabwägung vorzunehmen hat. Der Begriff "für nicht vertretbar hält" ist gleichbedeutend mit "nicht verantworten" können (vgl. Duden online unter www.duden.de). Wird etwas als nicht zu verantworten eingeschätzt, so setzt das einen Ab...